FoeBuD e.V.  ·  Marktstraße 18  ·  D-33602 Bielefeld
http(s)://www.foebud.org  ·  foebud@bionic.zerberus.de

Kollektiver Aufschrei

Piratenpartei, Chaos-Computer-Club und andere Netzaktivisten spüren Aufwind. Ihre Gegner sind die etablierten Politiker, denen sie einen Schuss vor den Bug geben wollen.

Ein Büro gibt es noch nicht. Aber der Wahlkampf ist in vollem Gang. „Ein Vollzeitjob“, sagt Ralph Hunderlach, Programmierer und Systemadministrator von Beruf und zugleich bayerischer Bundestagskandidat der Piratenpartei. Bei der letzten Bundestagswahl habe er zu den Politikverdrossenen gehört. Keine Partei war in Sicht, von der sich der Pfälzer, der in München lebt, vertreten fühlte. „Einfach hinsetzen und alles ignorieren ist aber nicht mein Stil“, sagt der Neu-Wahlkämpfer und legt fast verschämt den Werbeflyer mit der Parole „Klarmachen zum Ändern!“ auf das Kaffeehaustischchen.

Ändern will Hunderlach insbesondere eine Reihe vom Bundestag erlassener Gesetze zur Kontrolle des Internets, die inzwischen Hunderttausende Deutsche auf virtuelle Diskussionsplattformen, aber auch auf die Straßen und in die höchsten Gerichtssäle gebracht haben: das Zugangserschwerungsgesetz zu Kinderpornografie von Familienministerin Ursula von der Leyen vor allem, aber auch das Gesetz zur heimlichen Online-Durchsuchung persönlicher Computer und das Gesetz zur Speicherung aller Kommunikationsvorgänge deutscher Nutzer einschließlich der durchs Mobiltelefon ermittelbaren Bewegungsprofile.

Kern der Piratenideologie ist zudem ein anderes Urheberrecht, das privates Kopieren der Inhalte im Netz legalisiert und auf anderer Ebene einen Ausgleich zwischen Konsumenten und Kreativen organisiert. Im Winter planen die Piraten dazu öffentliche Gespräche zwischen den verschiedenen Interessengruppen, sagt Hunderlach, und das klingt fast schon staatstragend.

Mit jedem neuen Gesetz wurde der Protest im Netz lauter und die Schlange der Demonstranten länger. Soziologen und Wahlforscher diskutieren inzwischen über die digitale Bürgerrechtsbewegung und rätseln: Können die politisch unerfahrenen Piraten auf deren Bugwelle tatsächlich in den Bundestag segeln? Hunderlach bleibt Realist. „Wir wollen Aufmerksamkeit für unsere Themen und wollen diese in die Politik hineinbringen.“ Im ersten Anlauf müsse man „versuchen, den anderen Parteien Stimmen wegzunehmen, damit die merken, dass sie was falsch machen“.

Einen Schuss vor den Bug könne die Piratenpartei den etablierten Parteien durchaus verpassen, glaubt Constanze Kurz, Informatikerin an der TU Berlin und prominentes Mitglied des Chaos-Computer-Clubs (CCC). Nicht nur Wähler unter 25 Jahren seien die natürliche Klientel einer digitalen Bürgerrechtspartei, sagt Kurz. „Es geht um Wähler bis 45.“ Sie persönlich kenne niemanden mehr in diesem Alter, der keinen Rechner habe. Ein großer Kreis von potenziellen Wählern also, die sich ärgern über „Laiengesetze, die sich nicht um die Verfassung scheren“.

Es mag ein Zeichen für den Aufwind der digitalen Bürgerrechtler sein, dass der früher misstrauisch beäugte Hackerklub bei der Bewertung landes- und bundespolitischer Gesetze zum Internet längst zum gesuchten Experten geworden ist. Das Bundesverfassungsgericht lud den CCC zu Stellungnahmen in Sachen Online-Durchsuchung und Vorratsdatenspeicherung ein. Sich politisch zu engagieren sei heute auch für den Einzelnen trotz Job und Familien viel leichter, sagt Kurz. Abends zwei Stunden am Computer aktiv sein und sich einmischen in die öffentliche Debatte: Für politisches Engagement nähmen sich Nutzer heute eher Zeit als zum Beispiel für den Austausch privater Katzenbilder.

Vielleicht bedurfte es der „Piraten“ als Warnschuss für die traditionellen Parteien und die Aufmerksamkeit einer größeren Öffentlichkeit. Die digitale Bürgerrechtsbewegung aber gibt es schon länger, und einige ihrer Protagonisten hoffen, dass ihre Sorgen um die Informationsgesellschaft – nach Ansicht der Aktivisten die künftige Gesellschaft schlechthin – nun auch ernst genommen werden.

Der Stuttgarter Mediendesigner Alvar Freude stand 2003 vor dem Landgericht in Stuttgart, weil er sich erlaubt hatte, die erste Debatte um Internetsperren auf seiner Webseite zu dokumentieren. 2001 – lange vor dem politischen Aufstieg der Ursula von der Leyen – hatte der Düsseldorfer Regierungspräsident Jürgen Büssow Sperrverfügungen gegen drei Websites erlassen. Dem SPD-Politiker ging es um Nazi-Propaganda und „geschmacklose“ Seiten aus dem Ausland, die er, mindestens bei den Providern in seinem Bundesland, nicht dulden wollte.

Beschäftigt hat diese Internetzensur-Debatte 1.0 zunächst nur eine kleine Gemeinde von Medienrechtsexperten, dann digitale Bürgerrechtler wie Freude und schlussendlich die Gerichte. Diese entschieden damals, dass die Sperrung einzelner Seiten in Ordnung gehe, längere Listen dagegen nicht ohne weiteres geblockt werden dürften. Freude musste sich dafür verantworten, dass er die Debatte dokumentiert und die von Büssow zur Sperrung ausgeschriebenen Seiten verlinkt hatte.

Erst in zweiter Instanz wurde Freude vom Vorwurf der Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda freigesprochen. Heute ist der Vater einer dreijährigen Tochter einer der Köpfe des Arbeitskreises Zensur, der immerhin 134.000 Unterschriften gegen das Zugangserschwerungsgesetz von Ursula von der Leyen gesammelt hat. „Es gab in den letzten Jahren so viele Gesetzgebungsverfahren, bei denen man sich machtlos fühlte, die nichts für das angestrebte Ziel bringen und nur die Bürgerrechte beeinträchtigen“, beschreibt Freude, wie der Unmut Einzelner sich in einen kollektiven Aufschrei verwandelte. Da habe sich einiges angestaut, und das von der Leyensche Gesetz habe letztlich für eine Explosion gesorgt. Dass die Familienministerin in der Debatte mit „brutalst vergewaltigten Kleinkindern“ argumentiert habe, habe viele Leute bewegt.

Die Gegner des Gesetzes wie Freude, Kurz, Hunderlach oder andere digitale Bewegte warnen bis heute, dass die Sperrlisten wirkungslos sind, weil sie von Pädophilen leicht ausgeschaltet werden können. Vor allem aber werde Kindesmissbrauch nur verborgen und nicht verhindert. Die Aktivisten fürchten, dass eine Sperrinfrastruktur auch zur Zensur missbraucht werden könnte. Beteuerungen aus der Politik, dass das nicht das Ziel sei, beäugen alle Aktivisten mit großer Skepsis, weil sie in so vielen Kämpfen in den vergangenen Jahren am Ende den Kürzeren gezogen haben.

Erst das Verfassungsgericht, so Freude, habe etwa im Fall des Einsatzes von Wahlcomputern die Reißleine gezogen. „Man muss sich vorstellen, alle Computerexperten waren gegen Wahlcomputer“, erinnert er sich. Sie hätten Wählen am Computer einfach nicht für sicher genug gehalten, um Manipulationen zu verhindern. Bundestagsabgeordnete aber hätten ausgerechnet den technisch versierten Experten Technikfeindlichkeit vorgeworfen. „Wenn all diese Freaks gegen Computer sind, da müsste man doch mal zuhören“, sagt Freude. „Aber es ist, als renne man gegen eine Wand.“

Das klingt frustriert, aber das ist Freude keineswegs. Ganz im Gegenteil. Er setzt auf den Eindruck, den die wachsenden Zahlen netzpolitisch Engagierter auf die etablierte Politik machen werden. Über 40 Organisationen unterstützen die für den 12. September geplante Neuauflage der Demonstration unter dem Motto „Freiheit statt Angst“ in Berlin. Auch jüngere Mitglieder der klassischen Parteien könne man vielleicht noch für eine andere Politik gewinnen.

Ist die Debatte rund um digitale Bürgerrechte, um Piraten und das freie Netz Vorbote eines Generationenkonflikts? „Die alten Herren mit den schwarzen Kugelschreibern“ müssten abtreten, formuliert es der Netzkünstler und -aktivist Padeluun vom FoeBuD, dem „Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs“. Der FoeBuD gehört aber eigentlich selbst schon zum „alten Eisen“ der digitalen Bürgerrechtsbewegung, denn seine Geschichte reicht bis in die späten 1980er-Jahre zurück.

Damals realisierte man bei der Organisation eigene Mailboxsysteme und erkannte, so berichtet FoeBuD-Mitgründerin Rena Tangens, die Datenschutzprobleme der wachsenden elektronischen Kommunikation. Von 1991 an half der Verein, mittels eines Systems zum Austausch elektronischer Mails die Kommunikation zwischen Friedensgruppen in den vom Krieg zerrütteten exjugoslawischen Teilrepubliken aufrechtzuerhalten.

Bis 1996 bot man Menschen im eingeschlossenen Sarajevo die Chance, über den Server in Bielefeld überhaupt noch mit der Welt zu kommunizieren. „5000 Nutzer hatten wir damals“, sagt Tangens. Durch den Betrieb des Servers für die Eingeschlossenen habe man nachvollzogen, wie sensibel die Daten seien. „Immerhin konnten wir auf die private Kommunikation aller Teilnehmer zugreifen. Wir wissen also, was passieren kann.“

Zwei politische Schlussfolgerungen zog man beim FoebuD aus diesen frühen Erfahrungen: Maßnahmen zum Schutz des Einzelnen, der sich im Netz bewegt, sollten bereits in die Entwicklung der Systeme einfließen. Weil das Prinzip „Datenschutz durch Netzdesign“ das Rennen aber verlor, stürzte man sich beim FoeBuD auf das Aufdecken von Missständen. Seit 2000 verleiht die Organisation den „Big Brother Award“ an die schlimmsten Missetäter in Politik und Wirtschaft: Metro wurde wegen seiner heimlich auslesbaren RFID-Chipkarten ausgewählt, die Deutsche Bahn und Lidl, weil sie ihre Mitarbeiter bespitzelten. In beiden Fällen führte das Aufdecken der Praktiken zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit.

Tangens und Padeluun blicken mit einigem Optimismus auf die aktuelle Bewegung für digitale Bürgerrechte. Tatsächlich kennen sie neben den alten Herren mit den schwarzen Kugelschreibern alte Damen, die in Bielefeld durch die Straßen tourten, um die Gefahren der Vorratsdatenspeicherung zu erklären. Spätestens bei der Vorratsdatenspeicherung hätten viele Leute erkannt, dass solche Datensammelaktionen sie persönlich betreffen.

„Die Duldungsstarre ist überwunden“, so Padeluun, der sogar hofft, dass sich mit dem Schwung der neuen Bewegung manches schlechte Gesetz wieder zurückdrehen lässt. „Man kann Guantánamo auch schließen“, bemüht er einen drastischen Vergleich. Das Netz, die fünfte Macht im Staat, wie die FoeBuD-Aktivisten es bezeichnen, könne dabei nur hilfreich sein. Denn es mache die wechselnden Zusammenschlüsse von alten und neuen Online-Aktivisten leicht. Hinzutreten könnten Gruppen, die inzwischen die Gefahren mangelnder Absicherung der Bürgerrechte in der digitalisierten Welt sähen – etwa Ärzte oder Journalisten.

Ganz sicher dürfe man nicht nur in der digitalen Welt kämpfen, „denn die ist nur virtuell, aber wir müssen auch in die reale Welt“, sagt Padeluun. Man müsse raus aus der eigenen Blase, sagt Freude. „Ihr werdet euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen“, zitiert er eine Nachricht, die kürzlich einer der zahllosen Aktivisten den Parteipolitikern ins Stammbuch schrieb. Ganz standesgemäß natürlich: per Kurznachricht auf Twitter.

MONIKA ERMERT

Rheinischer Merkur, Bonn, 20. August 2009
Original: http://www.merkur.de/2009_34_Kollektiver_Aufsc.36516.0.html?&no_cache=1#

© WWW-Administration, 29 Sep 09