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Indiskretion Ehrensache

Antiterrordatei, Vorratsdatenspeicherung, Videoüberwachung. In Zeiten des globalen Terrorismus schränkt die Bundesregierung die Freiheits- und Menschenrechte ihrer Bürger immer weiter ein. Der Künstler padeluun, ein Vorsitzender von FoeBuD e.V., schlägt Alarm.

Ich bin manchmal ein sehr indiskreter Mensch. Meist schaffe ich, das mit dem mir eigenen Charme zu verbinden. Und da jede menschliche Kommunikation immer auch eine Abgrenzungsüberschreitung ist, kann ich über mangelnde oder uninteressante Sozialkontakte nicht klagen. Ein Nicken, ein Lächeln, ein freundliches Zur-Seite-Gehen...

Aber: Ich schiele nicht aus den Augenwinkeln heimlich nach hohen Absätzen oder stiere unverschämt auf Menschen, die ich dergestalt zu Objekten degradiere. Und zwischen mir und den Menschen, die ich anspreche, besteht kein Ungleichgewicht und keine technische Distanz. Ich bin ein Sehender, der auch gesehen wird – nicht Beobachter.

Die meisten Menschen haben nichts dagegen, gesehen zu werden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen. Doch auf Schritt und Tritt beobachtet zu werden, ist etwas ganz anderes. Diesen Unterschied bemerken immer mehr Menschen. Immer weniger „haben nichts zu verbergen“, weil sie ihre Privatsphäre vor den systematischen Indiskretionen von Staat und Industrie schützen wollen, die mit dem Wort „Anmaßungen“ besser beschrieben sind.

Ich zähle auf: Großer Lauschangriff. Trojaner des Verfassungsschutzes auf Privatrechnern. Vorratsdatenspeicherung der Kommunikationsdaten aller Bürgerinnen und Bürger. Videoüberwachung an allen wichtigen Verkehrsknoten. Automatische Kennzeichenerfassung und -auswertung. Mautsysteme. RFID-Chips. GPS-Navigationssysteme und Flottenmanagement. Auslagerung der Rasterfahndung auf Privatfirmen, wie unlängst die Abfrage bei Banken, wer alles einen bestimmten Betrag auf ein bestimmtes Konto überwiesen hat, mit 322 Treffern. Umbau des Bundesgrenzschutzes zur Bundespolizei. DNS-Analysen für Bagatelldelikte. Kontenabfrage durch Behörden. GEZ als Datenkrake. Arbeitslosenverwaltung. Digital Rights Management. Flugpassagierdaten. Datenerhebung beim Kauf von Fußball-Eintrittskarten. Kundenkarten. Abfrage von Geburtsdaten. Biometrische Vermessung von Bürgerinnen und Bürgern inkl. Lächelverbot. Datenerhebung durch Handelsunternehmen, Postnachsendeanträge. Zwangregistrierungen für Kunden. Heimliche Überwachung durch RFID-Chips (z.B. in der Bahncard 100) und und und ...

Es ist wahrscheinlich nur eine Verschwörungstheorie, dass irgendwo hinter all den Angriffen auf die informationelle Unversehrtheit eine steuernde Macht mit einem festen Plan sitzt. Wir alle haben schließlich gelernt, dass man nichts mit „Bosheit“ erklären soll, was man auch mit „Dummheit“ erklären kann (nur Zyniker und Unbedarfte sehen das wahrscheinlich umgekehrt).

Bürgerrechte – solange sie das Geldmachen nicht stören

Information!!! Falsche Wahrheiten wie das stalinistische „Wissen ist Macht“, das sich in den Köpfen der „Fundamentalkapitalisten“, Produktentwicklern und Systemadministratoren eingenistet hat, führen dazu, dass alle Freiheit, die nicht die eigene ist, als Bedrohung für das Recht, „frei, sicher und mühelos Geld zu machen“, empfunden wird. Freiheit der Privatsphäre, Bürger- und Menschenrechte sind nur okay, solange sie nicht – scheinbar oder anscheinend – das „Geldmachen“ stören.

Also definieren und programmieren sie – fahrlässig oder bewusst – Systeme, die den Aspekt „Privatsphäre“ stets außen vorlassen.

Wir haben inzwischen Leute in der Regierung, die Bürgerrechte als Relikt alter Zeiten (gemeint sind die, als es noch einen funktionierenden Sozialstaat gab) und das Grundgesetz als lästiges Hindernis für die Tagespolitik betrachten – so zum Beispiel Innenminister Wolfgang Schäuble schon anno 1996 in seinem programmatischen Artikel „Weniger Demokratie wagen?“ (FAZ vom 13.9.1996)

Und da seit den 80er Jahren „Geldmachen“ quasi als sakrosankt empfunden wird, erleben wir den Kreislauf der stillschweigenden Übereinkünfte. Wo sind die Ministerinnen und Minister, die Bundestagsabgeordneten, die sich im Bundestag hinstellen und laut sagen, „es gibt keine Terrorgefahr, Deutschland ist ein sicheres Land, Deutschland ist ein reiches Land, die Kassen sind voll, Kriminalität ist gering wie nie“ und „ich stimme nicht für diesen Schwachsinn“?

Da braucht’s viel Zivilcourage, die vom Grundgesetz direkt garantierte Unabhängigkeit zu nutzen (die übrigens auch gilt, wenn man nicht als Direktkandidat, sondern über die Landesliste in den Bundestag gekommen ist), um sich widerständig gegen Horden von Lemmingen zu stellen, deren Dummheit sie daran hindert, ihre eigene Dummheit zu begreifen.

Und wir da unten?

Uns kann es eigentlich egal sein, ob die „da oben“ dumm oder böse sind. Die Angriffe auf unsere Freiheit (denn es geht nicht nur um den Verlust von Privatsphäre) werden so oder so systematisch ausgeführt. Der Bundestag ist gegen die Einführung von biometrischen Pässen? Also wird das entsprechende Gesetz von Schily über den Umweg Europa eingeführt. Der RFID-Chip im Pass ist unsinnig und verringert sogar die Sicherheit? Die Kritiker werden via ministerieller Anordnung mundtot gemacht. Der Bundestag hat die Nutzung der Mautsysteme 2002 ausschließlich für die Erhebung der Maut freigegeben? Na, da muss man doch nur zwei, drei Jahre warten, bis man mit einem geeigneten Kriminalfall die Emotionen schüren kann, um dann die Bilder der Mautbrückenkameras doch für andere Zwecke nutzen zu dürfen.

Lösung? Bevor wir mit Heugabeln und Dreschflegeln durch die Straßen ziehen, müssen wir in unseren Köpfen aufräumen. Klingeln Sie bei Ihrem Nachbar und fragen Sie ihn, ob er sich von Terror bedroht fühlt. Fragen Sie sich selbst, ob Sie Sicherheit oder Videoüberwachung wollen. Prüfen Sie, ob auch Sie „Sicherheit“ und „Überwachung“ gleichsetzen. Werden Sie Mitglied irgendeiner Partei und übernehmen Sie Verantwortung. Und bleiben Sie locker und bewahren Sie sich Zivilcourage, auch wenn Sie in einer Funktion angekommen sind. Und wenn Ihnen das zu anstrengend ist: Gehen Sie auf die Straße, wenn dazu aufgerufen wird, denn jede Stimme zählt. Und unterstützen Sie diejenigen, die sich jeden Tag für Freiheit und Menschenrechte einsetzen. Zum Beispiel meinen FoeBuD e.V. Denn um auch weiter jeden Tag für Freiheit arbeiten zu können, benötigen wir Ihre Unterstützung - und unabhängige Arbeit braucht unabhängiges Geld. Auch mit 5, 10 oder 20 Euro können Sie schon eine Menge Gutes bewirken.

Die italienische Journalistin Franca Magnani sagte einmal: „Je mehr Bürgerinnen und Bürger mit Zivilcourage ein Land hat, desto weniger Helden wird es einmal brauchen.“

Werden Sie aktiv und mischen Sie sich indiskret – und wenn es sein muss, auch uncharmant – in den politischen Alltag ein.

padeluun ist Künstler und einer der Vorsitzenden des "Vereins zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e.V." (FoeBuD e.V.). Er ist Mitorganisator sowie Jurymitglied des Datenschutznegativpreises BigBrotherAwards.

padeluun

Politik Digital, Berlin, 18. Januar 2007
Original: http://www.politik-digital.de/edemocracy/extremismus/padeluun_indiskretion_070118.shtml

© WWW-Administration, 18 Jul 07