2007 nahmen an der ersten großen Demonstration gegen die Vorratsdatenspeicherung ca. 150.000 Menschen teil. Damit wurde das Thema Vorratsdatenspeicherung und Totalüberwachung einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Aber das Thema ist immer noch zu wenig präsent, wenn man das potenzielle Ausmaß bedenkt.
Die neuen Techniken der Kommunikation sind zwar für alle offen, aber damit auch für Missbrauch oder einen potenziellen Überwachungsstaat allgegenwärtig. Auf der einen Seite versprechen die Techniken uns Freiheit(en) von denen unsere Vorfahren nur zu träumen wagten, beispielsweise jederzeit und überall politisch tätig zu werden oder jederzeit die „richtigen“ Informationen zur Hand zu haben. Die Kehrseite ist dann aber: Wenn ich jederzeit weiß wo ich bin, können das auch andere nachvollziehen. Da bleibt immer mehr ein mulmiges Gefühl in der Magengegend wenn man Meldungen liest, dass die Abhörschnittstelle schon mit eingebaut ist. Die indische Regierung zum Beispiel, hat schon lange landesweit Zugriff auf den sogenannten Nokia Messaging Dienst, (vergleichbar der SMS) sowie auf die „Blackberry“ genannte Mobilfunk Schnittstelle. Von Wirtschaftsspionage oder der Überwachung von Bürgern unerwünschter politischer oder religiöser Auffassung ist in den englischsprachigen indischen Medienberichten keine Rede. Es wird lediglich über die Besorgnis der Regierung berichtet, Terroristen könnten elektronisch kommunizieren und Attentate vorbereiten.
Und es sollen weitere unsichtbare Fäden zum bestehenden Überwachungsnetz hinzu kommen. Der zum Jahresende 2010 in Berlin stattgefundene Chaos Comunicaton Congress (27C3) hat hierüber wieder ausführlich berichtet. (1) Und durch das aktuelle EU-Projekt INDECT bekommt Big Brother eine neue Qualität. Es gibt seit 2007 aber auch eine breite Bündnisbewegung gegen die verdachtsunabhängige Speicherung und Überwachung aller Bürger. Der FoeBud (2) sowie der AK Vorrat (2), die die Planung der Demonstrationen und Klagen damals und heute organisieren, dienen als Verwaltungs- und Ansprech- Basen. Diese beiden werden durch eine breite Koalition aus Parteien und ihren Jugendorganisationen unterstützt. Dabei sind beispielsweise auch die Piraten Partei sowie die Humanistische Union vertreten. Überraschend aktive Proteste kommen auch von so unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen wie dem Republikanische Anwältinnen - und Anwälteverein e.V. (RAV) oder die „Ärzte gegen die eCard“ und vielen anderen Gesellschaftsgruppen.
INDECT steht für “INtelligent information system supporting observation, searching and DEteCTion for security of citizens in urban environment” (”Intelligentes Informationssystem, das Überwachung, Suche und Entdeckung für die Sicherheit von Bürgern in einer städtischen Umgebung unterstützt”). Es ist ein Forschungsprojekt der Europäischen Union mit ca. 30 beteiligten Organisationen. Es startete klammheimlich 2009 und soll 2013 abgeschlossen sein.
Die Unschuldsvermutung ist eine der Säulen des demokratischen Rechtsstaates; INDECT stehe dagegen für das Prinzip: »Jeder ist verdächtig«. Auch der innenpolitische Sprecher der FDP im EU-Parlament, Alexander Alvaro, warnt vor der »totalen Überwachung« in europäischen Städten durch eine große »Menschensuchmaschine«. Die EU-Kommission versucht jedoch bei jeder Anfrage, die Bedeutung von INDECT herunterzuspielen. Das Projekt findet hinter verschlossenen Türen statt. Man wolle doch gar kein serienreifes Produkt entwickeln, hieß es aus der Kommission. Im September des Jahres 2010 wurden dann die Geheimhaltungsvorschriften unter denen INDECT entwickelt wird, dann auch noch verschärft.
Laut der EU-Kommission arbeitet INDECT unter anderem an der „Registrierung und dem Austausch operativer Daten, dem Erwerb von Multimedia-Inhalten, der automatischen Aufdeckung von Bedrohungen und der Erkennung von abnormalem Verhalten oder Gewalt“. INDECT soll demnach ein „integriertes netzwerkzentriertes System zur Unterstützung der operativen Aktivitäten von Polizisten unter Bereitstellung von Techniken und Instrumenten zur Beobachtung verschiedener beweglicher Objekte“ entwerfen. Neben angeschlossenen Polizeidatenbanken und dem Internet sollen Daten auch von fliegenden Kameras verarbeitet werden. Die gesammelten Erkenntnisse sollen mittels computergestützter, mathematischer Verfahren auf begangene oder zu erwartende Straftaten analysiert werden. Auf dem 27c3 (Chaos Communication Congress) verifizierte ein INDECT Entwickler der Uni Krakau, dass das System keine neuen Kameras benötigt.
Weder ist die Europäische Kommission zu ausführlichen Auskünften zu INDECT bereit, noch ist eine zufriedenstellende parlamentarische Kontrolle über die Parlamente der 27 Mitgliedsstaaten möglich. Papiere über diesbezügliche parlamentarische Anfragen an die deutsche Bundesregierung zeigen eine weitgehende Unkenntnis über das Forschungsvorhaben. Zudem konnte die Bundesregierung auch nach mehreren Nachfragen nicht über die Widersprüche zwischen den von Ihnen erklärten INDECT-Projektzielen und den Auskünften der EU-Kommission aufklären. Und erst kürzlich hatte auch der sogenannte INDECT-Ethikrat beschlossen, ausgewählte Dokumente zukünftig zurückzuhalten, da das Vorhaben in der Vergangenheit oft falsch verstanden worden wäre. Informationen, die eine nicht näher bezeichnete „nationale Sicherheit“ gefährden könnten, sollen verheimlicht werden.
Aber einige der geplanten Grausamkeiten sind schon bekannt. So sollen Handyortung und Videoüberwachung einschließlich der biometrischen Erfassung von Gesichtern mit der automatischen Ausspähung von Blogs, Facebookeinträgen und E-Mail-Kommunikation kombiniert werden. Das sogenannte Data Mining der Bürgerdaten wird also explizit mit als Ziel erwähnt. Komplettiert werden soll das System durch Polizeidrohnen, die Verdächtige aus der Luft erfassen. Dadurch wirkt es wie eine riesige Suchmaschine des Polizeistaats, die auf den Einzelnen oder gegen Gruppen gerichtet werden kann. An INDECT arbeiten mehrere Universitäten sowie privatwirtschaftliche Unternehmen aus verschiedenen EU-Ländern mit. FRONTEX und BKA stehen dem Projekt als Berater zur Seite. Beteiligt ist weiterhin auch die Bergische Universität Wuppertal. Sie weist INDECT auf ihrer Homepage als drittmittelgefördertes Forschungsprojekt aus. Dagegen behauptet die Bundesregierung in ihrer Antwort an besorgte Wissenschaftler und Interessierte, dass deutsche Forschungsprojekte »weder mittelbar noch unmittelbar (in INDECT) integriert« seien. Allerdings räumt sie ein, dass das Bundeskriminalamt mit einer Veranstaltung zu einem »Foto-Fahndung«-Projekt »ausgeholfen hatte«. Getestet werden soll die vernetzte Datenbank dann später an großen Menschenmassen, beispielsweise die Menschenmassen, die bei der Fußball-Europameisterschaft 2012 in Polen erwartet werden. Unter anderen ist hier auch von Audiosensoren die Rede, die Fan-Gesänge auf bedrohliche Stimmlagen auswerten sollen. Zu der Frage, wie Besucher der EM ihre Persönlichkeitsrechte schützen können, nahm die Regierung keine Stellung.
Auch wenn wir immer wieder nur kleine Erfolge haben, wie bei dem dann doch (nicht) bewilligten Jugendmedien Staatsvertrag (JMStV), der „Kinder Porno“ Debatte oder der Netzsperren Debatte, die politische Auseinandersetzung wird gerade auch in Anbetracht der klammheimlichen Volkszählung (Zensus11) auch in diesem Jahr weiter zugespitzt. Weitere aktuelle Informationen finden Sie auf der Sonderseite http://www.stopp-indect.info/
Michael Kappes
readers-edition.de, Berlin, 10. Februar 2011
Original: http://www.readers-edition.de/2011/02/10/voratsdatenspeicherung-20-themenspezial-ueberwachung-indect/