Weihnachten ist nur das Vorspiel, die eigentliche Bescherung findet für den wahren Hacker danach statt - auf dem Chaos Communication Congress. Doch düstere Visionen trüben in diesem Jahr die Freude am alljährlichen Fest der Nerds und Geeks.
Im Saturn-Markt am Berliner Alexanderplatz dürfte man sich seit gestern Mittag über einen rasanten Absatz von Dect-Telefonen wundern. Die mobilen Telefone für zu Hause werden nämlich nebenan im Berliner Congress Center dringend gebraucht. Dort haben sich Hacker aus ganz Europa zum 22. Chaos Communication Congress versammelt - und ein Dect-Netz mit Gratis-Telefonaten ins Festnetz gibt es auch.
Wer kein Dect-Telefon habe, solle sich doch schnell noch eins besorgen, rief Tim Pritlove vom Chaos Computer Club (CCC) den angereisten Nerds und Geeks zu. Und ergänzte: "Ich habe gehört, man kann ein Gerät auch wieder zurückbringen, wenn es einem nicht gefällt." Nun ja, möglicherweise müssen die Saturn-Mitarbeiter am Freitag, der diesjährige Kongress geht erstmals über vier Tage, ja Überstunden schieben.
Ein Dect-Telefon fürs interne Netz kann sehr hilfreich sein. Zum Beispiel um die Hacker Ethik Hotline zu konsultieren, die der CCC eigens unter der Nummer 1042 eingerichtet hat. "Ruft da bitte an, falls ihr euch fragt, was passiert, wenn ihr eine Kiste aufmacht", erklärte Pritlove. Mit Kiste aufmachen meint er hacken. "Oder wenn ihr Euch nicht sicher seid, ob es Stress geben könnte, wenn ihr jetzt die Enter-Taste drückt."
Stress gab es eine Menge, und zwar vor einem Jahr an gleicher Stelle. Damals hatten Kongressbesucher per Skript knapp 20.000 Websites manipuliert. Der CCC musste sich strengen Fragen von Ermittlern stellen. CCC-Sprecher Andy Müller-Maguhn erklärte den Beamten die Situation nach eigener Erinnerung so: "Wir lassen im Grunde nur Leute ins Haus, die wir gar nicht genau kennen."
Nun ja, man kennt zwar nicht jeden, aber zumindest viele der Anwesenden. Denn Veranstaltungen wie in Berlin gibt es nur ein bis zwei Mal pro Jahr - und da fährt man als Hacktivist natürlich hin - Ehrensache.
Was vor 21 Jahren als überschaubares zweitägiges Treffen in Hamburg begann, hat sich mittlerweile zu einer professionell organisierten Veranstaltung entwickelt. Bildschirme im Foyer übertragen laufende Vorträge aus den vier Sälen. Drinnen werkeln Beamer, Zuschauer bekommen Mikrofone gereicht, um Fragen zu stellen.
Wie immer geht es auch in diesem Jahr um Grundsätzliches. "Private Investigation" lautet das Motto. Was zeichnet den wahren Hacker aus? Kann die Privatsphäre noch gerettet werden? Oder ist der Krieg schon verloren, wie die CCC-Aktivisten Frank Rieger und Rop Gonggrijp zu später Stunde orakelten?
Rieger und Gonggrijp stellten damit die Sinnfrage - und legten den Finger in die Wunde. Der Japaner Joichi Ito, Vorstand unter anderem bei Icann, Technorati und Mozilla Foundation, hatte in seiner Keynote noch konkrete Tipps für die Hackerarbeit der Zukunft gegeben: "Kämpft für freie Inhalte und Redefreiheit. Haltet die Netze offen. Unterstützt Open Source und File Sharing."
Rieger und Gonggrijp stellten dem ihre "pessimistische Keynote" entgegen, wie CCC-Sprecher Müller-Maguhn es ausdrückte. "Die Technik war schneller als wir", konstatierte Rieger. Man habe sich in der eigenen Arbeit zu sehr auf technologische Probleme konzentriert, ohne darüber hinaus zu denken. "So haben wir verloren." Düstere Überwachungsszenarien der Vergangenheit seien längst Realität.
"Viele von uns haben sich verkauft und arbeiten für die andere Seite", sagte Rieger. Das sei ein Problem für den CCC.
Wer sich am Veranstaltungsort umschaut, bekommt allerdings kaum den Eindruck, dass das Hacken als solches in einer Krise steckt. Die überwiegend männlichen Besucher kriegen ihre Finger kaum von den Tastaturen ihrer Laptops. Auf der Treppe, in der Lounge im Untergeschoss, während der Vorträge - überall wird getippt - vorzugsweise in der Kommandozeile.
Viele Kongressteilnehmer wollen von einem Scheitern des Hackertums nichts wissen. "Ich halte es für fatal, den Eindruck zu erwecken, alles sei verloren", sagte Rena Tangens SPIEGEL ONLINE. Tangens richtet mit ihrem Bielefelder Verein FoeBud alljährlich den Big-Brother-Award aus.
Auch Mathias Schindler vom Wikimedia-Vorstand kann den Pessimismus nicht teilen: Wikipedia sei beispielsweise ein Lösungsansatz für die diskutierten Probleme. "Take back the Web"- genau das ermögliche die Enzyklopädie, an der jeder Surfer mitschreiben könne.
Dass der CCC in Zeiten von Biometrie-Pässen und WM-Eintrittskarten mit den umstrittenen RFID-Chips nicht den Kopf in den Sand steckt, machte Müller-Maguhn im traditionellen Jahresrückblick deutlich. "RFID-Chips sind äußerst empfindlich", erklärte der CCC-Sprecher. Man habe da "comicartig" schon einiges durchgespielt.
Ursprünglich wollte der CCC wegen der umfangreichen Datensammlung des DFB beim Ticketverkauf sogar zu einem Boykott der Fußball-WM aufrufen. "Aber angesichts der Leute, die solche Veranstaltungen besuchen, ist das wohl unrealistisch", sagte Müller-Maguhn. "Doch was passiert wohl, wenn die Tickets aller Leute einer Schlange am Stadioneingang plötzlich nicht mehr lesbar sind?"
Eine spannende Frage, die sich vielleicht in ähnlicher Form auch bald bei Passkontrollen stellen wird. Denn die deutschen Reisepässe werden seit November ebenfalls mit einem Funkchip ausgestattet, auf dem unter anderem biometrische Daten hinterlegt sind. Was RFID-Chips so alles aushalten und was nicht, hat der Biometrie-Experte des CCC, starbug, bereits ausprobiert. Schon das simple Verbiegen des Passes könne den Chip zerstören. Auch Mikrowellen oder Schweißtrafos bekämen den RFID-Chips nicht gut. "Kommt mit eurem neuen RFID-Reisepass bloß nicht in die Nähe meiner Mikrowelle", warnte er die Kongressteilnehmer.
Holger Dambeck
Spiegel Online, Hamburg, 28. Dezember 2005
Original: Nicht bekannt