Der Datenhunger deutscher Polizeibehörden ist unersättlich. Schon eine Beleidigung kann ausreichen, damit die Polizei den genetischen Fingerabdruck erfasst. Sogar völlig unbescholtene Bürger finden sich immer häufiger als Verdächtige in den Akten wieder.
Bei einer Routine-Kontrolle entdeckte die bayerische Polizei im vergangenen Jahr 0,6 Gramm Marihuana in einem Auto. Beifahrerin war eine junge Frau. Obwohl sie sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, speicherten die Ermittler sie ohne ihr Wissen: als Tatverdächtige für den "illegalen Handel mit Amphetamin und -derivaten". Zu Unrecht, kritisiert der bayerische Datenschutzbeauftragte Michael Betzl. Er hat die Speicherung von Verdächtigen in den Datenbanken der bayerischen Polizei geprüft und kam zu dem Ergebnis, dass die Polizei nicht selten auch Unbescholtene als Verdächtige speichert. Allein beim digitalen "Rauschgift-Informationssystem" hatte Betzl bei mehr als einem Drittel der geprüften Fälle "erhebliche Zweifel an der Erforderlichkeit der Speicherung der Daten". Auch sein schleswig-holsteinischer Kollege Thilo Weichert berichtet: "Es kommt immer häufiger vor, dass die Polizei unschuldige Bürger in ihren Akten als Verdächtige führt". Angesichts von aktuell rund 3,4 Millionen Personen-Kriminalakten, die in Deutschlands Polizeistuben lagern, eine beängstigende Aussage. Auch Freigesprochene oder Bürger, deren Verfahren eingestellt wird, müssen laut Weichert damit rechnen, möglicherweise noch Jahre später in den Computern der Sicherheitsbehörden gespeichert zu sein. Zudem sei es "ein gängiges Problem", dass die Kriminalakten von Verdächtigen auch nach den mehrjährigen Fristen oft nicht gelöscht würden.
Die Sammelwut deutscher Sicherheitsbehörden betrifft auch Fingerabdrücke. Hatte das Bundeskriminalamt (BKA) im Jahr 1992 erst von 1,8 Millionen Personen die Fingerabdrücke erfasst, sind es mittlerweile bereits 3,3 Millionen. Ein Teil des Anstiegs ist aber auf die seit den 90er Jahren obligatorische erkennungsdienstliche Behandlung von Asylbewerbern zurückzuführen.
"Immer häufiger bei geringfügigen Straftaten"
Am meisten Sorge bereitet Weichert jedoch der "immer unbedarftere Umgang" mit DNA-Dateien. Die Zahl der in der DNA-Datei des Bundeskriminalamtes registrierten Personen hat sich, trotz seit Jahren sinkender Kriminalitätsrate, von 72.000 im Jahr 2000 auf derzeit rund 445.000 beinahe versechsfacht. Allein im vergangenen Jahr nahmen die deutschen Polizeibehörden laut einer BKA-Statistik 72.280 Verdächtigen den genetischen Fingerabdruck ab, "immer häufiger auch bei eher geringfügigen Straftaten", kritisiert Datenschützer Weichert. Eine Anfrage von SPIEGEL ONLINE beim BKA ergab, dass in der Gen-Datei allein über 1400 Menschen registriert sind, die aufgrund eines Verdachtes auf Beleidigung eine DNA-Probe abgeben mussten. "Das ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht rechtens", sagt Weichert. Zwar reicht seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2005 auch der Verdacht, jemand habe mehrere kleinere Straftaten begangen, um DNA-Daten aufzunehmen. Dies jedoch nur dann, wenn davon auszugehen ist, dass der Beschuldigte auch in Zukunft Straftaten von "erheblicher Bedeutung" begeht. "Außerdem muss nachvollziehbar sein, dass diese zukünftigen Straftaten auch mit Hilfe einer DNA-Probe aufgeklärt werden können, und das ist bei einer zukünftigen Beleidigung definitiv nicht der Fall", sagt Weichert.
Dass sich laut BKA-Statistik derzeit 112.300 Diebstahl-Verdächtigte in der Gen-Datei befinden, hält der Kieler Datenschützer für "unverhältnismäßig". "Der Gesetzgeber hat den Sicherheitsbehörden den kleinen Finger gegeben und die reißen die ganze Hand ab", poltert Weichert. Die Polizei sieht das naturgemäß anders: "Gerade die kriminelle Karriere von Sexualstraftätern beginnen nicht mit einer Sexualstraftat, sondern mit verschiedenen kleineren Delikten, etwa Diebstählen oder Gewalttaten", sagt BKA-Sprecherin Stefanie Amft. Eine empirische Studie bestätige diesen Zusammenhang.
Zigarettenkippen als absichtliche falsche Fährte
Datenschützer Weichert hält die Erfassung von immer mehr DNA-Profilen dagegen für "eine äußert gefährliche Entwicklung". Schließlich wisse niemand, was in Zukunft mit dem genetischen Fingerabdruck alles rekonstruierbar sei. Zudem fanden britische Wissenschaftler heraus, dass Kriminelle immer häufiger ganz gezielt auf der Straße gefundene Zigarettenkippen am Tatort hinterlassen, um die Polizei auf eine falsche DNA-Spur zu locken.
Eine Untersuchung der Universität Leicester ergab: In Großbritannien wurden in den Jahren 2004 und 2005 nur 0,35 Prozent der Straftaten mit Hilfe von DNA-Vergleichen aufgeklärt. Und das, obwohl in keinem Land der Welt die DNA so vieler Menschen gespeichert ist: Bereits 2006 waren fünf Prozent der Bevölkerung registriert, EU-weit waren es lediglich 1,13 Prozent. Bei 140.000 Briten, davon mehr als ein Drittel Kinder, nahm die Polizei sogar ohne jeglichen Verdacht, das DNA-Profil ab. In dieser Gruppe war der Anteil der Migranten dreimal so hoch wie der in der Gesamtbevölkerung.
In Deutschland sind seit 2005 auch freiwillige DNA-Tests möglich, wenn der Verdächtige auch in Zukunft eine erhebliche Straftat begehen könnte. Datenschützer vermuten allerdings einen indirekten Druck auf Verdächtige, sich der DNA-Analyse zu unterziehen. So etwa im Fall des 21-jährigen Christoph E.: Der Bayer wurde im vergangenen Jahr volltrunken mit einer Ecstasy-Tablette von der Polizei aufgegriffen. Er berichtete SPIEGEL ONLINE, niemand habe ihn über die Freiwilligkeit des Tests aufgeklärt. Da habe es nur geheißen, "das müssen Sie machen". Beim bayerischen Innenministerium hat man dagegen "keine Hinweise darauf, dass Verdächtigen ohne ausreichende Belehrung die DNA abgenommen wird". Zehn Jahre lang wird die DNA eines Verdächtigen im Regelfall in Deutschland gespeichert. Problematisch findet Weichert deshalb, dass der genetische Fingerabdruck auch bei einem Freispruch häufig im Computer bleibe. Rainer Riedl, Sprecher des bayerischen Innenministeriums, räumt ein, dass nur bei einem "Freispruch wegen erwiesener Unschuld die genetischen Fingerabdrücke grundsätzlich gelöscht werden". In anderen Fällen, etwa bei Freisprüchen aus Mangel an Beweisen oder einer Verfahrenseinstellung wegen geringen öffentlichen Interesses könne das DNA-Muster weiter gespeichert werden, falls ein begründeter Restverdacht bestehe. "Das kommt auf den Einzelfall an", so Riedl.
Die DNA-Analyse ist mittlerweile ein unersetzliches Mittel für die Fahnder: "Mit ihrer Hilfe können Verbrechen aufgeklärt, Tatverdächtige überführt, Unschuldige entlastet und potentielle Opfer vor Wiederholungstätern geschützt werden", sagt BKA-Sprecherin Amft. In Deutschland gab es seit der Einführung der DNA-Datei 1998 bis November 2006 laut BKA immerhin 32.470 Fälle, in denen die Tatortspur einer Person zugeordnet werden konnte und "damit vermutlich eine Tat aufgeklärt" wurde. Vor allem Diebstähle, aber auch zahlreiche Vergewaltigungen und Morde konnte die Polizei dank der DNA-Datenbank aufklären.
Daten deutscher Bürger in europäischen Datenbanken
Weichert fordert deshalb auch kein Verbot, sondern lediglich einen "maßvollen Umgang mit DNA-Profilen". Kritisch sieht er unter anderem den von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) geplanten EU-weiten Austausch von Gen-Dateien.
"Es ist bedenklich, wenn die Daten deutscher Bürger im Ausland ausgespäht werden können, denn wer will, kommt an alle Daten ran", kritisiert auch ein Sprecher des Datenschutz-Vereins Foebud. "Sind die Daten erst einmal in der Welt, kann man sie nicht mehr zurückholen", heißt es bei dem Verein, der den Überwachungs-kritischen Big Brother-Award vergibt.
Als besonders fleißig beim Datensammeln gilt neben Bayern auch Hessen, wo laut dem hessischen BKA 2008 "das modernste Labor zur DNA-Analyse bundesweit" entstehen soll. Weichert kritisiert, dass die Polizei zunehmend die DNA auch politischer Aktivisten abnehme. So soll die niedersächsische Polizei bei einer friedlichen Demonstration von Castor-Gegnern laut einem Bericht der "Datenschutz Nachrichten" Zigarettenkippen für spätere DNA-Proben in Plastiktütchen einzeln gesammelt haben. In Oberbayern musste ein 20-Jähriger seinen DNA-Fingerabdruck abgeben, weil er verdächtigt wurde, die Hauswand eines NPD-Politikers mit Anti-Nazi-Sprüchen beschmiert zu haben. "Die Polizei sammelt Daten von politischen Aktivisten", kritisiert Siegfried Benker, Chef der Grünen-Stadtratsfraktion in München.
Der bayerische Datenschutzbeauftragte kritisiert auch den Fall eines 14-Jährigen, der bei einer Anti-Kriegs-Demo in München ein Plakat mit der Aufschrift "Rumsfeld Massenmörder" trug. Die Polizei speichert den Jungen seither als Verdächtigen in ihrer Staatsschutzdatei. Dass das Verfahren eingestellt wurde, weil der US-Politiker nicht wegen "Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten" klagen wollte, ändert nach Auffassung der Sicherheitsbehörden nichts an der Gefährlichkeit des Jugendlichen.
"Zweck der betreffenden Staatsschutzdatei ist nicht Strafverfahren nachzuweisen, sondern sie dient der Gefahrenabwehr", so ein Polizeisprecher gegenüber SPIEGEL ONLINE. Eine weitere Speicherung sei nämlich nur dann unzulässig, wenn die Unschuld des Betroffenen erwiesen ist - und dies sei in diesem Fall nicht gegeben.
Tobias Lill
Spiegel Online, Hamburg, 05. März 2007
Original: http://www.spiegel.de/netzwelt/tech/0,1518,465388,00.html