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Loveparade für Bürgerrechte

Es ist ein denkbar buntes Bündnis: Parteien und Gewerkschaften, aber vor allem Bürgerrechts- und Internetaktivisten haben in Berlin gegen Internetüberwachung und für mehr Datenschutz protestiert. Sie zeigen dabei vor allem, dass sie sich von den etablierten Parteien unverstanden fühlen.

Berlin - Der antikapitalistische Block schwenkt rote Fahnen und skandiert Parolen gegen die BRD, weiter hinten stehen die Jungen Liberalen mit einem blankpolierten gelben Fahrzeug. Hans-Christian Ströbele, Geheimdienst-Experte der Grünen, schiebt sein Fahrrad vorbei - es ist eine bunte Mischung, die sich am Samstag am Potsdamer Platz in Berlin gesammelt hat. Hier, zu Füßen das Bahn-Towers, wollen die rund 20.000 Menschen protestieren, unter dem Motto "Freiheit statt Angst".

Denn spätestens seit den Spitzel-Skandalen von Lidl, Telekom und Co. wächst das Interesse am Datenschutz, nicht nur bei der Generation C64, jenen Menschen, die mit dem Internet aufgewachsen sind. Sie alle hier in Berlin wollen kurz vor der Bundestagswahl ein deutliches Signal setzen: Grüne Luftballons steigen in den Himmel, auf ihnen ein Bild des Innenministers, durchgestrichen, und der Spruch "Schäuble-Freie Zone". "Hier gilt das Grundgesetz", steht auf einem der zahlreichen Schilder und Transparente, mit denen für den Erhalt der Bürgerrechte demonstriert wird. Auf einem langen Truck tanzen mehrere Dutzend in schwarz und orange gekleidete Menschen auf zwei Ebenen. Rund 20 Fahrzeuge sind aufgefahren und sollen den Protestzug beschallen. Es ist eine kleine Loveparade für das Grundgesetz.

So viel Protest wie seit 1987 nicht mehr

Die bunte Versammlung eint der Protest gegen die Vorratsdatenspeicherung, Internet-Zensur und Online-Durchsuchung. Fast sieht es so aus, als ob hier eine neue Protestbewegung wächst, die sich von den etablierten Parteien im Bundestag unverstanden fühlt, die so deutlich für mehr Bürgerrechte auf die Straße geht, wie seit den Protesten gegen die Volkszählung 1987 nicht mehr. Man sei gegen einen Staat, der zunehmend registriere, überwache und kontrolliere, sagt denn auch die Bürgerrechts- und Internet-Aktivistin Rena Tangens, die "Freiheit statt Angst" mit organisiert hat. Dass es das Internet nur in staatlich überwachter Form geben soll, will sie nicht hinnehmen. "Das ist keine Naturgesetzlichkeit, das können wir gestalten."

Dabei sind - wie könnte es anders sein - natürlich auch die Vertreter der Piratenpartei. Überall werden deren orangefarbenen Fahnen geschwenkt, tragen Teilnehmer das typische Shirt in schwarz mit weiß-orangenem Aufdruck. Es ist die wichtigste Wahlkampfveranstaltung der noch jungen Partei, deren Programm sich weitgehend auf Datenschutz und Internet-Freiheit beschränkt. Sie wollen in den Bundestag einziehen, mehr als 7000 Mitglieder zählen die Piraten bereits.

Im Internet gewinnen sie regelmäßig Abstimmungen und hängen die etablierten Parteien ab - ob im StudiVZ, bei Xing oder auf Zeit Online. Ob sich der virtuelle Erfolg auf die Bundestagswahl übertragen lässt, scheint fraglich - noch werden die Piraten in den meisten Umfragen unter den vier, fünf Prozent "Sonstige" subsummiert. Laut einer klassischen Telefon-Umfrage des "Handelsblatts" kam die Piratenpartei sieben Wochen vor der Wahl lediglich auf magere zwei Prozent.

Telefonumfrage? Viel zu analog!

"Niedrige Umfragewerte hatte die Piratenpartei in Schweden zur Europawahl auch", sagt Fabio Reinhardt, Sprecher der deutschen Piraten, "zum Schluss hatten sie ein Super-Ergebnis". Mit Telefonumfragen würde man eben ihre potentiellen Wähler gar nicht erst erreichen, viel zu analog - das übliche Piraten-Argument. Die Ziele von Demonstration und Partei seien ein- und dieselben - doch reden dürfen sie heute nicht.

Denn es ist nicht nur ein Piraten-Protest, ganz im Gegenteil: Ein großes Bündnis von mehr als 160 Organisationen will zeigen, dass Netzthemen nicht nur eine Minderheit von Computer-Nerds interessiert. Das "Freiheit statt Angst"-Bündnis hat es ganz bewusst abgelehnt, Parteien eine herausragende Rolle zuzugestehen. Sie laufen mit - Reden halten dürfen sie nicht. "Die Piraten sind ein Bündnis von vielen", sagt Rena Tangens.

Dabei sind sie trotzdem: Die FDP macht mit, Seite an Seite mit der Linken und den Grünen. Der Jugendableger der SPD, die Jusos, protestiert sogar gegen die Sozialdemokraten in der Regierung. "Wenn die Parteien sich unserer Themen annehmen, freut uns das", sagt Markus Beckedahl, Netzpolitik-Blogger. Darauf werde man dann aber auch achten, wenn die Parteien in der Regierungsverantwortung stehen, kündigt Beckedahl an.

Auch außerhalb der Parteien findet die Bewegung Unterstützung: Die Gewerkschaften sind dabei, die Humanistische Union, die Liga für Menschenrechte, natürlich der Chaos Computer Club, die Globalisierungskritiker von Attac. Auch Berufsverbände unterstützen den Protest, von Anwälten bis hin zu Zahnärzten und Jugendverbänden.

"Wir haben von Datenmissbrauch die Nase voll"

Gewerkschaftschef Frank Bsirske ist einer von vier Rednern, die zum Auftakt der Großdemonstration sprechen. Er kritisiert Schnüffel- und Bespitzelungsaktionen gegen Beschäftigte. "Wir haben von Datenmissbrauch, vom Ausspionieren durch Arbeitgeber und Anteilseigner die Nase voll", sagt der Ver.di-Vorsitzende. Angesichts der Datenskandale fordert der Funktionär im Jackett ein "Arbeitnehmerdatenschutzgesetz", die Masse aus jungen T-Shirt-Trägern und Internet-Aktivisten klatscht anerkennend.

Bis heute habe die regierende Politik nicht verstanden, was Informationsgesellschaft bedeutet, kritisiert auch Thilo Weichert, Landesbeauftragter für den Datenschutz in Schleswig-Holstein. Staat und Wirtschaft legten den Menschen immer mehr elektronische Fuß-, Hand- und Gehirnfesseln an. "Auch wenn wir hunderte digitale Geräte um uns herum haben, wollen wir keine Angst haben, sondern frei sein", ruft der unabhängige Datenschützer den Protestierenden zu.

Schließlich steigen grüne, rote und gelbe Ballons in die Luft, der Piraten-Truck dreht die Musik lauter und die Gehirnfessel-Gegner ziehen mit ihren Party-Mobilen los.

Ole Reissmann

Spiegel Online, Hamburg, 12. September 2009
Original: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/0,1518,648638,00.html

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