(FoeBuD). Mehr als 6.000 Bürger wollen nach Angaben des Bürgerrechtsvereins FoeBuD vor das Bundesverfassungsgericht ziehen, falls der Bundestag der Protokollierung von Telefon- und Internetverbindungen zustimmt. Neben Journalisten, Ärzten, Abgeordneten und Jura-Professoren haben auch Geistliche und Psychotherapeuten im Fall einer Klage ihre Vollmacht erteilt.
Menschen aus allen Bereichen der Bevölkerung wehren sich gegen Pläne der Bundesregierung, Daten über ihre Kommunikationspartner, ihr Bewegungsverhalten und ihre Internetnutzung auf Vorrat zu protokollieren. Bereits am ersten Tag der vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung letzte Woche gestarteten "Sammel-Verfassungsbeschwerde" kündigten 3.700 besorgte Bürgerinnen und Bürger ihre Teilnahme an. Inzwischen wollen über 6.000 Menschen nach Karlsruhe ziehen, falls der Bundestag die von der Koalition für 2007 geplante Vorratsdatenspeicherung beschließt.
"Von Handwerkern bis Professoren setzen sich Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppen gegen dieses verfassungswidrige Vorhaben zur Wehr", teilt der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mit, der die eingehenden Anmeldungen sammelt. Unter den Beschwerdeführern befinden sich viele Journalisten, die um ihre anonymen Informanten fürchten. Auch Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmensberater, Suchthelfer und Psychotherapeuten sehen die Vertraulichkeit als Grundlage ihrer Tätigkeit in Gefahr. Selbst Seelsorger und Geistliche wollen gegen die Vorratsdatenspeicherung klagen. Allgemein herrscht unter den Beschwerdeführern die Sorge vor, aus den geplanten Dateien ließen sich körperliche, psychische, rechtliche oder sonstige Schwierigkeiten unzähliger Menschen ablesen. Die Besorgnis eines Bekanntwerdens könne Menschen in prekären Situationen davon abhalten, Hilfe zu suchen, so der Mitarbeiter einer Telefonberatung im Sexualbereich.
Der Berliner Rechtsanwalt Meinhard Starostik, der die Vertretung der Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht übernimmt, freut sich über die "waschkörbeweise eingehenden Vollmachten". Die Vollmachten seien "derzeit vor allem politische Willensbekundungen der künftigen Beschwerdeführer", so der Anwalt. "Sie drücken die große Besorgnis vieler Bürger aus, dass die Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages ein verfassungswidriges Gesetz verabschieden wird, das wieder einmal Elemente des totalitären Überwachungsstaates beinhaltet. Ich hoffe, dass die Abgeordneten diesen Gesetzentwurf schnellstens in den Papierkorb befördern und dass die Verfassungsbeschwerde nie erhoben werden muss."
Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung veröffentlichte am Donnerstag einen Bericht des Bundeskriminalamts vom November 2005, der die Erforderlichkeit der Vorratsdatenspeicherung belegen soll. Dem Bericht zufolge konnten in den letzten Jahren 381 Straftaten wegen fehlender Telekommunikationsdaten nicht aufgeklärt werden, vor allem in den Bereichen Internetbetrug, Austausch von Kinderpornografie und Diebstahl. "Die genannten 381 Fälle machen weniger als 0,001% der 6,4 Mio. jährlich begangenen Straftaten aus", kommentiert Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung. "Laut Kriminalstatistik bleiben Jahr für Jahr 2,8 Mio. Delikte aller Art unaufgeklärt, meistens weil die Täter keine Spuren hinterlassen haben. Vor diesem Hintergrund ist nicht einzusehen, warum gerade die Nutzer von Telefon, Handy und Internet unter Generalverdacht gestellt werden sollten, zumal die Aufklärungsquote in diesem Bereich schon jetzt überdurchschnittlich hoch ist. In einer freiheitlichen Demokratie ist es eine Selbstverständlichkeit, dass die Spurensicherung nur im Verdachtsfall losgeschickt wird und der Staat nicht jeden Bürger vorsorglich als potenziellen Verbrecher behandeln darf."
An prominenten Beschwerdeführern sind neben dem Bielefelder Rechtsprofessor Christoph Gusy und dem Präsidenten der Internationalen Liga für Menschenrechte Rolf Gössner der Europaabgeordnete Tobias Pflüger und die Bundestagsabgeordnete Silke Stokar an der Verfassungsbeschwerde beteiligt. Zur Begründung ihrer Unterstützung erklärt Frau Stokar: "Mein Mandat als Abgeordnete kann ich nicht mehr frei ausüben, wenn meine Telefonate und Mails von staatlichen Lauschern ausgewertet werden. Hier werden elementare Grundrechte außer Kraft gesetzt, eine Verfassungsklage ist geradezu geboten." Auch die Bremer Strafrechtsprofessorin Edda Weßlau nimmt an der geplanten Verfassungsbeschwerde teil, weil sie die Regierungspläne für verfassungswidrig hält.
Ein Meldeformular für die kostenfreie Beteiligung an der Klage und eine Liste der Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer befinden sich auf der Homepage des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung www.vorratsdatenspeicherung.de. Der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Datenschützern und Internet-Nutzern. Er fordert, das deutsche Gesetzesvorhaben zumindest solange auszusetzen, bis der Europäische Gerichtshof über die von Irland im Juli eingereichte Nichtigkeitsklage gegen die EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung entschieden hat.
Hintergrund:
Das Bundesjustizministerium hat vor drei Wochen einen Gesetzentwurf zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland vorgestellt. Danach soll ab Mitte 2007 zur verbesserten Strafverfolgung über einen Zeitraum von sechs Monaten nachvollziehbar werden, wer mit wem per Telefon, Handy oder Email in Verbindung gestanden hat. Bei Handy-Telefonaten und SMS soll auch der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten werden. Anonyme Emailkonten und Anonymisierungsdienste sollen verboten werden.
Mit Hilfe der gespeicherten Daten können Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden sind möglich. Die Furcht vor einem Bekanntwerden ihrer Kontakte könnte Informanten, Ratsuchende und Hilfsbedürftige in Zukunft davon abhalten, sich an Journalisten, Anwälte oder Beratungsstellen zu wenden. Der Informantenschutz, das Anwalts- und das Arztgeheimnis würden unterlaufen.
Gegenwärtig dürfen Telekommunikationsanbieter nur die zur Abrechnung erforderlichen Verbindungsdaten speichern. Dazu gehören Standortdaten und Email-Daten nicht. Auch sonstige Verbindungsdaten werden auf Wunsch monatlich gelöscht. Durch die Benutzung von Pauschaltarifen ("Flat-Rates") kann eine Speicherung zudem bisher gänzlich vermieden werden.
Social Times, Bielefeld, 01. Dezember 2006
Original: http://www.socialtimes.de/nachricht.php?nachricht_id=9236