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Tausend Briefe gegen Big Brother-Pläne

Vorratsdatenspeicherung

(FoeBuD). Die Kampagne gegen die geplante Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten hat nach nur fünf Monaten die 1000-Briefe-Grenze durchbrochen. Das Echo auf die Briefe ist allerdings gering. Ihre Empfänger, 448 Bundestagsabgeordnete, haben entweder nicht geantwortet oder vorformulierte Standardantworten benutzt, teilte der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung mit.

Einen wachsenden Widerstand gegen die geplante Vorratsdatenspeicherung (verdachtsunabhängige Speicherung von Telekommunikationsdaten zur verbesserten Strafverfolgung) vermeldet der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung, in dem sich unter anderem Journalisten, Rechtswissenschaftler, Politologen und Informatiker zusammengeschlossen haben. Der Arbeitskreis zieht damit eine positive Zwischenbilanz seiner Aktion "Offene Briefe gegen die Vorratsdatenspeicherung". Auf einem speziellen Internetportal briefe.gegen.daten.speicherung.eu können besorgte Bürger seit September 2006 offene Protestbriefe gegen die von Union und SPD geplante sechsmonatige Speicherung weiter Teile des Kommunikations-, Bewegungs- und Internetnutzungsverhaltens der Bevölkerung schreiben. Die Briefe werden allen 448 Abgeordneten von Union und SPD per E-Mail zugeleitet. Die über 1.000 individuell formulierten Briefe besorgter Bürger zeigten, dass von Politikverdrossenheit keine Rede sein könne, erklärte der Arbeitskreis am Montag.

"Wie Sie bereits selber feststellen mussten, stellen Sie damit eine immens große Gruppe unter einen sog. 'Generalverdacht'", kommentiert etwa ein Bürger aus Nordrhein-Westfalen die geplante Datenspeicherung. "Im Internet habe ich gelesen, dass das Bundeskriminalamt keine 400 Fälle hatte, die aufgrund einer fehlenden Vorratsdatenspeicherung hätten aufgeklärt werden können. Warum stellen wir nicht gleich alle Handwerker unter Generalverdacht, weil vor kurzem herausgefunden wurde, dass 10 der 1.000.000 Handwerker in Deutschland Waschmaschinen nicht ordnungsgemäß reparieren können?" Neben vielen Briefen über die Unverhältnismäßigkeit der Vorratsdatenspeicherung, über ihren marginalen Nutzen und die Möglichkeiten ihrer Umgehung werden oft auch gesellschaftspolitische Aspekte wie der starke Vertrauensverlust der Menschen in die Politik thematisiert. Ein 17- jähriger Abiturient schreibt etwa: "Ich mach mein Abitur, schließe ein Studium ab und versuche mein Glück im Ausland. Denn ein Land und eine Regierung, die das Volk nicht achten sind für mich kein Ort, wo ich leben will." Ein Student bekräftigt: "Ich empfinde es als beschämend, dass ein Land, welches von sich selbst behauptet, zur sogenannten freien westlichen Welt zu gehören, jedes Jahr aufs weitere seinen eigenen Rechtsstaat untergräbt und immer mehr zu Mitteln greift die bis vor kurzem noch der Stasi vorgehalten wurden".

Ein angehender Pfarrer macht sich Sorgen um das Beichtgeheimnis: "Wie soll ich später - ich bin angehender Pfarrer - das Seelsorgegeheimnis zusagen können, wenn dies durch eine Überwachung - um nichts anderes handelt es sich hier - faktisch aufgehoben wird? Ich hoffe, dass Sie es zu schätzen wissen, wenn man sich drauf verlassen kann, dass das Gesagte beim anderen vertraulich und gut aufgehoben ist. Die Telefonseelsorge wird damit in ihrer Glaubwürdigkeit beraubt, die immer wichtiger werdende Seelsorge über E-Mail und Internet wird unmöglich." Teilweise wird ein zunehmendes Misstrauen gegenüber der Politik deutlich: "Warum überprüft und kontrolliert man nicht ausschließlich die Menschen, die Macht haben? Denn gerade die können doch den Bürgern (für deren Schutz und Freiheit Sie eigentlich zuständig sein sollten) mehr Schaden als alle anderen zufügen. Aber die Ironie an der Sache ist ja gerade, dass es [...] gerade die Bürger trifft, die gar nicht zu ernsten Sicherheitsrisken werden könnten, aber aufgrund ihres Unwissens und fehlenden finanziellen Mitteln, dem Staat und dessen Machtausübungen schutzlos ausgeliefert sind", lautet der Vorwurf einer Bürgerin aus Bayern.

Nicht zuletzt greifen die Menschen ein Argument auf, das von Seiten der Regierung und der Strafverfolgungsbehörden immer wieder als Argument für die Vorratsdatenspeicherung angeführt wird: Den Schutz und die Zukunft unserer Kinder. "Wie sollen wir Demokratie lernen, wie was Meinungsfreiheit ist oder das Recht auf Selbstbestimmung? Wie sollen wir mündige Bürger und Steuerzahler werden, wenn wir Angst haben müssen uns unsere eigene Meinung zu bilden? Wie können wir später selbstbewusst und erfolgreich im Beruf sein, wenn wir Angst haben müssen, dass alles gespeichert wird? Denken Sie an unsere Zukunft und stimmen Sie gegen das Gesetz zur allgemeinen Datenspeicherung", heißt es in einem Brief aus Niedersachsen. Ein Lehrer zeigt sich ratlos, wie er den Kindern ein solches Gesetz erklären soll: "Wie soll ich so etwas bitte meinen Schülern erklären? Eine Kriminalisierung aller Menschen? Jeder ist verdächtig? Und deine Steuern zahlst du später mal dafür, dass du von deinem Staat ausspioniert wirst mein Kleiner? Und zwar auch noch völlig nutzlos! Was bitte soll ich auf die Frage antworten, wieso der Staat das macht? Soll ich vielleicht sagen der Staat hat Angst vor seinen eigenen Bürgern? Vielleicht können Sie mir da ja helfen."

"Ich kann leider nicht mit fassenden Argumenten einen überzeugenden Rundumschlag formulieren, oder gar einen persönlichen Souffleur ausstechen, aber ich kann Ihnen sagen wie ich mich fühle: Ich habe Angst bekommen vor der Salamischeibenstrategie der Bundesregierungen hin zum automatisierten Überwachungsstaat", so ein weiterer offener Brief. Dass eine solche Angst in einem freiheitlich demokratischen Rechtstaat überhaupt entsteht, empfindet Twister (Bettina Winsemann) vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung als beklemmend. "Das Vertrauen zwischen Volk und Regierung ist auf beiden Seiten quasi nicht existent. Die Regierung misstraut dem Volk und will immer mehr kontrollieren, überwachen und speichern. Das Volk misstraut den Regierenden, die längst den Kontakt zum Volk eingestellt haben. Die neuen Überwachungstendenzen, die Missachtung von Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes und Projekte wie die Vorratsdatenspeicherung sind für den Wiederaufbau verlorenen Vertrauens alles andere als geeignet."

Die Reaktionen der Abgeordneten auf die Briefe sind verhalten. Die meisten Abgeordneten antworten nicht oder mit Standardantworten, die von den Fraktionen vorformuliert sind. Darin wird die geplante Vorratsdatenspeicherung verteidigt, obwohl der Bundestag selbst wiederholt gegen eine Vorratsdatenspeicherung gestimmt hatte und ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags die Verfassungsmäßigkeit des Vorhabens in Frage stellt. Einige Abgeordnete kritisieren indirekt die vielen Eingaben der besorgten Bürger. "Die meisten Menschen, die in den letzten Tagen Briefe wie den Ihren an einen Großteil der über 400 CDU/CDU- und SPD-Abgeordneten verschickt haben, erwarten eine individuelle Antwort von jedem einzelnen Abgeordneten", so etwa die CDU-Abgeordnete Kristina Köhler. "Angesichts der Zahl der Zuschriften, die uns erreichen, angesichts der Fülle anderer Aufgaben und angesichts der Komplexität vieler Themen, die Bürger in ihren Zuschriften ansprechen, ist das eine unrealistische Erwartung. Vor diesem Hintergrund empfehle ich jedem Bürger, [...] die Abgeordneten des eigenen Wahlkreises anzuschreiben". Patrick Breyer vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung kommentiert: "Alle Abgeordneten der Koalition stimmen über die geplante Totalprotokollierung unserer Telekommunikation ab. Bei ihrer Entscheidung vertreten sie das gesamte deutsche Volk. Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu gerechtfertigt, wenn sich die vielen betroffenen Menschen an sämtliche Volksvertreter wenden und einen Stopp dieser Pläne fordern."

Hintergrund:

Dem Gesetzentwurf zur Einführung einer Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zufolge soll ab Mitte 2007 zur verbesserten Strafverfolgung über einen Zeitraum von sechs Monaten nachvollziehbar werden, wer mit wem per Telefon, Handy oder Email in Verbindung gestanden hat. Bei Handy- Telefonaten und SMS soll auch der jeweilige Standort des Benutzers festgehalten werden. Anonyme Emailkonten und Anonymisierungsdienste sollen verboten werden.

Mit Hilfe der gespeicherten Daten können Bewegungsprofile erstellt, geschäftliche Kontakte rekonstruiert und Freundschaftsbeziehungen identifiziert werden. Auch Rückschlüsse auf den Inhalt der Kommunikation, auf persönliche Interessen und die Lebenssituation der Kommunizierenden sind möglich. Die Furcht vor einem Bekanntwerden ihrer Kontakte könnte Informanten, Ratsuchende und Hilfsbedürftige in Zukunft davon abhalten, sich an Journalisten, Anwälte oder Beratungsstellen zu wenden. Der Informantenschutz, das Anwalts- und das Arztgeheimnis würden unterlaufen.

Gegenwärtig dürfen Telekommunikationsanbieter nur die zur Abrechnung erforderlichen Verbindungsdaten speichern. Dazu gehören Standortdaten und Email-Daten nicht. Auch sonstige Verbindungsdaten werden auf Wunsch monatlich gelöscht. Durch die Benutzung von Pauschaltarifen ("Flat-Rates") kann eine Speicherung zudem bisher gänzlich vermieden werden.

Social Times, Bielefeld, 15. Januar 2007
Original: http://www.socialtimes.de/nachricht.php?nachricht_id=9506

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