Unterwegs bei der Demo "Freiheit statt Angst" mit dem Piratenpartei-Kandidaten für den Bundestag, René Emcke, und einem Netzaktivisten der sagt: "Ich will nicht repräsentiert werden".
„Wahnsinn“, sagt René Emcke, als sich der Demonstrationszug langsam in Bewegung setzt. Vom Dach des Doppeldeckerbusses hat er einen guten Überblick über die „Freiheit statt Angst“-Demo – trotz der vielen orangefarbenen Fahnen, die seine Piratenpartei-Mitstreiter eifrig im Takt von harten Elektrobeats schwenken. „Wenn sie's jetzt nicht raffen, wann dann“, sagt Emcke – und schießt Fotos von der Menge.
Es ist die dritte Demonstration, die der 32 Jahre alte Emcke jemals besucht hat. Und mit Abstand die größte. Emcke steht der Mund offen. So viele Teilnehmer, das hätte er nicht erwartet. Bis vor kurzem hat er sich für Politik nicht interessiert. Bis er Ende Mai 2009 Mitglied der Piratenpartei wurde. Einen Monat später war er ihr Landesvorsitzender von Sachsen-Anhalt – und Spitzenkandidat für die Bundestagswahl. „Über die Vorratsdatenspeicherung habe ich mich schon geärgert“, sagt Emcke. „Aber beim Zugangserschwernissgesetz hat es dann geknallt.“ Die Art und Weise, wie Familienministerin von der Leyen mit Providern und Gesetzgeber um die Stoppschilder für Kinderpornografieseiten feilschte und wie die Proteste dagegen ignoriert wurden, habe ihn mobilisiert, sagt er. Eine andere Partei als die Piraten sei für ihn nicht in Frage gekommen, sagt Emcke. „Auf alle anderen ist kein Verlass.“
Wie ein Computerfreak wirkt der Magdeburger Emcke nicht. Großgewachsen und drahtig ist Emcke, ohne den charakteristischen Rundrücken eines Rechnerarbeiters. „Ich würde mich als fortgeschrittenen User bezeichnen, keinenfalls als Nerd“, sagt er über sich. Bis heute nutzt er Windows – in Spezialistenkreisen ein Faux Pas. Studierte BWL statt Informatik. Spricht viel und offensichtlich gern mit fremden Leuten. Damit widerspricht Emcke jeder Menge Klischees über Piratenparteiler – und zeigt, dass die Partei inzwischen auch jenseits der klassischen Nerd-Klientel mobilisiert.
Wer Emckes Argumentationssalven zu den Themen Netzsperren und Urheberrechte hört, der mag kaum glauben, dass er sich das alles in wenigen Monaten angelesen haben will. Doch das ist vielleicht auch seinem gut geschulten Verkaufstalent geschuldet. Jahrelang arbeitete er als selbstständiger Promoter, vermarktete schon parallel zu seinem Studium verschiedene Telekommunikationsanbieter. „Dann wollte ich den Leuten nicht mehr verkaufen, was sie nicht brauchen und habe beschlossen, mich beruflich umzuorientieren“, erklärt er. Nun lebt er von Hartz IV, widmet sich seit Monaten Vollzeit dem Wahlkampf. Kurz: Am Wahlergebnis bei der Bundestagswahl hängt für ihn persönlich jede Menge ab.
Das da unten, die Demonstranten, das sei nicht nur eine Netzbewegung, sagt Emcke. „Das ist ein Aufstand von Bürgerrechtsaktivisten“, sagt er. Emcke spricht viel über Bürgerbeteiligung und Transparenz. Und bekommt damit auch viel Zuspruch von älteren Wählern, die sich in der Vergangenheit von den etablierten Parteien verarscht fühlen, sagt er. Bei der Piratenpartei dürfe jeder sich einbringen, sie wolle den Fraktionszwang im Bundestag aufheben, damit jeder nach seinem Gewissen abstimmen könne.
Beliebig sei ihre politische Haltung nicht, durch ihre Positionen zu ihren ureigenen Netzthemen sei doch erkennbar, wo das mit der Piratenpartei hingehe. Ins freiheitlich-liberale nämlich – aber natürlich nicht so, wie die FDP das verstehe. „Viele Wähler sagen: 'Bei der Piratenpartei wähle ich doch die Katze im Sack.' Und ich sage: 'Ihr könnt euch einbringen, wir werden unsere Meinungsbildungsprozesse auch nach der Wahl offen halten.'“
Emcke weiß, dass er hier vorsichtig sein muss – scheiterte er doch bei seinem ersten Radiointerview an den Nachfragen eines Journalisten zur Position der Piratenpartei zum Afghanistan-Konflikt. Dies sei eines der Felder, in denen sich seine Partei noch Kompetenzen zulegen müsse, wigelte Emcke damals ab. Heute ist er besser auf die Frage vorbereitet, kann zumindest seine persönliche Position zum Thema Afghanistankrieg und Forderungen in der Arbeitsmarktpolitik formulieren – auch wenn er damit nicht für seine Partei sprechen könne, wie er betont.
Ein paar hundert Meter hinter dem aufgeputschten Loveparade-Truck der Piratenpartei läuft Michael Seemann mit dem Demonstrationszug. Ohne Fahne, ohne Schild, ohne eine große Gruppe von sichtbaren Mitstreitern. Doch er nickt immer wieder Bekannten zu, an denen er im Demonstrationszug vorbeistreift. Als Twitter-User „MS Pro“ ist Seemann Teil der Berliner Netzkulturszene. Anders als Emcke engagiert er sich nicht bei der Piratenpartei – sondern gehört zu dem Teil der Netzaktivisten, die sich nicht einer politischen Organisation anschließen wollen. „Ich will niemanden repräsentieren und von niemandem repräsentiert werden“, sagt er.
Gerade kommt Seemann von einer Twitterlesung in Frankfurt, ist direkt vom Flughafen zur Demonstration gefahren und hält sich nun etwas müde an einer halb vollen Flasche Clubmate fest. Mit Jackett zum T-Shirt ist er für diese Demonstration überdurchschnittlich ordentlich gekleidet. Bei ihm, dem Doktoranden der Kulturwissenschaften, war die Vorratsdatenspeicherung, die ihn so ärgerte, dass er nicht nur in seinem Blog darüber ätzte, sondern tatsächlich politisch mobilisierte. „Um eine Lücke zu füllen. Netzthemen haben noch keine politische Tradition, so wie zum Beispiel das Grundeinkommen. Niemanden, der sie vertritt. Darum ist es wichtig, dass ich mich da engagiere – einfach weil das kein anderer besser machen kann als ich und die Leute, die das jetzt mit mir machen.“
Seemann organisiert politische Barcamps und Diskussionsrunden auf Netzkonferenzen, geht zu Anhörungen im Bundestag und auf Parteitage. Formelle Repräsentanz und Organisation sei heute im Netzzeitalter nicht mehr nötig, um politisch aktiv zu sein, sagt er. Und er glaube an die Kraft von AdHoc-Netzwerken, die sich blitzschnell übers Netz mobilisieren lassen. Und weiß doch aus seiner Arbeit mit Parteien: „Politiker brauchen Telefonnummern, wo sie anrufen können und sagen können: 'Du bist doch Internet.'“
Im Demonstrationszug ziehen Piratenparteiler mit ihren Flaggen an ihm vorbei. „Irgendwie ist das auch niedlich, wie stolz die hier mit ihren T-Shirts rumlaufen“, sagt er. Viele Forderungen und Ideen der Piraten sind ihm sympathisch – doch der 32-Jährige hat den Eindruck, dass dort eine andere, jüngere Generation vertreten ist. „Im besten Fall zieht die Piratenpartei nie in den Bundestag ein und die Parteien nehmen einfach ihre Themen und Ideen auf.“
Ähnlich sieht er die Entwicklung der gesamten netzpolitischen Bewegung. „Dieser ganze Zirkus wird abnehmen, wenn die Politik besser wird. Der „Freiheit statt Angst-Demo weine ich keine Träne nach – wenn sie denn unnötig wird. Ich muss mich nicht immer politisch engagieren.“
Der Potsdamer Platz ist halb leer, als Seemann die Abschlusskundgebung erreicht. Die Rede von Franziska Heine will er sehen, eine Bekannte von ihm, die die extrem erfolgreiche Online-Petition gegen die Internet-Sperren gegen Kinderpornografie eingereicht hat. Einer der Organisatoren der Organisation gibt über das Mikrofon die Teilnehmerzahl der Demo bekannt: 25.000 sollen es gewesen sein. Enttäuschend, findet Seemann – es hätten mindestens doppelt so viele werden müssen wie auf der Demo im letzten Jahr. Zückt sein iPhone und twittert: „25.000? das ist ja mal bitter!“
MEIKE LAAFF
taz NRW, 13. September 2009
Original: http://www.taz.de/1/politik/schwerpunkt-ueberwachung/artikel/1/%5Caufstand-der-buergerrechtsaktivisten%5C/