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Karlsruhe kippt Vorratsdatenspeicherung

Das Umsetzungsgesetz zur Vorratsdatenspeicherung ist verfassungswidrig und daher nichtig, bislang gespeicherte Daten müssen umgehend gelöscht werden. Dies urteilte das Bundesverfassungsgericht heute, wie zahlreiche Quellen berichten.

Die Paragraphen 113 a und b TKG sowie 100 g Abs. 1 Satz 1 StPO wurden insgesamt für nicht erklärt, die bereits gespeicherten Daten sind zu löschen. Diese Bestimmungen können "auch nicht in eingeschränktem Umfang übergangsweise weiter angewendet werden", es bleibe bei der "gesetzlichen Regelfolge der Nichtigerklärung", so das Gericht in einer Pressemitteilung.

Nach Auffassung des Gerichts ist eine Vorratsdatenspeicherung "nicht von vornherein schlechthin verfassungswidrig", die konkrete Ausgestaltung sei aber nicht verhältnismäßig: "Die angegriffenen Vorschriften gewährleisten weder eine hinreichende Datensicherheit, noch eine hinreichende Begrenzung der Verwendungszwecke der Daten. Auch genügen sie nicht in jeder Hinsicht den verfassungsrechtlichen Transparenz und Rechtsschutzanforderungen. Die Regelung ist damit insgesamt verfassungswidrig und nichtig", heißt es in der Pressemitteilung.

Eine Vorlage des Verfahrens an den Europäischen Gerichtshof erfolgt nicht, da ein möglicher Vorrang des Gemeinschaftsrechts hier nicht relevant sei, so das Gericht weiter. Die Richtlinie (2006/24/EG) lasse den Mitgliedsstaaten einen weiten Spielraum zur Umsetzung, da sie nur die Speicherungspflicht und ihren Umfang regele, die Zugriffsregelungen aber den Einzelstaaten überlasse: "Mit diesem Inhalt kann die Richtlinie ohne Verstoß gegen die Grundrechte des Grundgesetzes umgesetzt werden. Das Grundgesetz verbietet eine solche Speicherung nicht unter allen Umständen."

"Bei einer Ausgestaltung, die dem besonderen Gewicht des hierin liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung trägt, unterfällt eine anlasslose Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten nicht schon als solche dem strikten Verbot einer Speicherung von Daten auf Vorrat im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Eingebunden in eine dem Eingriff adäquate gesetzliche Ausgestaltung kann sie den Verhältnismäßigkeitsanforderungen genügen", heißt es weiter. Es handele sich bei einer solchen Speicherung zwar um "einen besonders schweren Eingriff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt", der es ermögliche "aussagekräftige Persönlichkeits- und Bewegungsprofile praktisch jeden Bürgers" zu erstellen, was zu einem "diffus bedrohlichem Gefühl des Beobachtetseins" führen könne, was wiederum "eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen kann" - eine solche Speicherung sei aber daher nicht per se verfassungswidrig, sie müsse aber eine Ausnahme bleiben: "Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit einer vorsorglich anlasslosen Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten setzt voraus, dass diese eine Ausnahme bleibt. Dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf, gehört zur verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland, für deren Wahrung sich die Bundesrepublik in europäischen und internationalen Zusammenhängen einsetzen muss. Durch eine vorsorgliche Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten wird der Spielraum für weitere anlasslose Datensammlungen auch über den Weg der Europäischen Union erheblich geringer."

Für eine solche verfassungsverträgliche Umsetzung stellte das Gericht Leitlinien auf: Die Datenübermittlung müsse transparent erfolgen, sofern dies nicht den Zweck der Überwachung vereitele. Daher müssen Regelungen zur nachträglichen Informierung der Betroffenen bei Nutzungen im Rahmen der Strafverfolgung geschaffen werden, so das Gericht. Die Nutzung der Daten müsse grundsätzlich unter Richtervorbehalt stehen, so das Gericht weiter. Illegale Nutzungen müssen mit "wirksamen Sanktionen" bewehrt sein. Die Übermittlung von Personeninformationen zu bereits bekannte IP-Adressen (etwa zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen) dürfe "nur aufgrund eines hinreichenden Anfangsverdachts oder einer konkreten Gefahr auf einzelfallbezogener Tatsachenbasis erfolgen", Betroffene müssen informiert werden, so das Gericht weiter.

"Andere Länder profitieren von diesem Urteil nicht, also wollen wir unseren Protest über die Grenzen ausweiten", kündigte Florian Altherr vom Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung an. Seine Kollegin Rena Tangens sah das Urteil "zwiespältig": "Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass die Richter die Speicherung als solche für verfassungswidrig erklären. Es ist aber ein Riesenerfolg, dass das bisherige Gesetz abgelehnt wurde [...]." Ihren Angaben zufolge wird auch daran gedacht, ein EU-Bürgerbegehren gegen die Vorratsdatenspeicherung zu organisieren. Claudia Roth, Vorsitzende der Grünen, sprach von einem "riesengroßen Erfolg". Vizekanzler Guido Westerwelle (FDP) sah das Urteil als Bestätigung des "langjährigen Engagements für Bürgerrechte" der Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Sie hatte noch aus der Opposition heraus das Gesetz als eine der Beschwerdeführerinnen angegriffen, war zur mündlichen Verhandlung im Dezember dann aber nicht erschienen, um Rollenkonflikte zu vermeiden. "Dieses Urteil ist eines, das uns erst einmal in Schwierigkeiten bringen wird, weil wir Instrumente nicht anwenden können", kritisierte der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, Peter Altmaier, die Entscheidung. Aus der Telekommunikationsbranche wird eine Entschädigung für die bereits erfolgten Investitionen in die nötige Infrastruktur gefordert: "Wir sind der Meinung, dass die Bundesregierung uns — den Telekomunternehmen — das bezahlen muss", so der Geschäftsführer des Branchenverbandes VATM, Jürgen Grützner. Er gehe davon aus, dass "wir die Daten erst komplett löschen und dann wieder speichern müssen. Je nach dem, wie die neue Gesetzeslage dann aussieht."

Zuvor hatten bereits Gerichte in Rumänien und Bulgarien die dortigen Umsetzungsregelungen gekippt. Schweden weigert sich, die Richtlinie umzusetzen. Österreich hat sie noch nicht umgesetzt, arbeitet aber an einem Gesetzentwurf, der im Herbst fertiggestellt werden soll.

Diese Meldung wird im Laufe des Tages mit Reaktionen auf das Urteil und weiteren Informationen ergänzt werden. Bei Netzpolitik.org gibt es einen Pressespiegel.

O. Langfeldt

Unabhängiges Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein, Kiel, 02. März 2010
Original: http://www.datenschutz.de/news/detail/?nid=4134

© WWW-Administration, 02 Mar 10