Der Innenminister empfiehlt ein Buch aus einer erschreckenden Gedankenwelt. Der Jurist Otto Depenheuer beschwört darin einen »weltweiten Bürgerkrieg«
Nur indirekt hat Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der ZEIT auf die Frage geantwortet, ob der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terrorismus bis an seine Grenzen oder – Stichwort Guantánamo – gar darüber hinaus gehen müsse (ZEIT Nr. 30/07). Der Bundesinnenminister beschränkte sich auf die Empfehlung, ein Buch dazu zu lesen, Selbstbehauptung des Rechtsstaats. Sein Autor: Otto Depenheuer. Klingt nicht nach Krimi, aber wenn Schäuble es sagt … Also liest man. In eine geradezu paranoid anmutende, extrem hermetische Gedankenwelt sieht man sich versetzt von dem Autor, einem Juraprofessor aus Köln, Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik. Highnoon ist nichts dagegen. Jener Zusammenprall der Kulturen, der Samuel Huntington zufolge droht, er findet aus Sicht des Autors längst statt. Mitten im »Zeitalter des Terrorismus « befänden wir uns, seien mit der »Realität eines weltweiten Bürgerkriegs konfrontiert«. Handlungsoptionen, heißt es, müssten »ausgelotet « werden, wenn der Staat mit seinen »demokratischen und rechtsstaatlichen Drapierungen« sich nicht selbst aufgeben wolle. Wenn nicht, machten es andere – »aber zu ihren Bedingungen, zu denen nicht Freiheit und Gleichheit, Rechtsstaat und Demokratie zählen müssen«. Wie man den »weltweiten Bürgerkrieg« garantiert verliert, illustriert aus seiner Sicht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das am 15. Februar 2006 das geplante Luftsicherheitsgesetz für verfassungswidrig erklärte. In Paragraf 14 enthielt es die Ermächtigung, ein Flugzeug abzuschießen, »wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie (die Einwirkung mit Waffengewalt, Anm. d. Red.) das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist«. Mit der Menschenwürde sei es nicht zu vereinbaren, befanden die Richter, die beim Abschuss getöteten Flugzeuginsassen mit den mutmaßlich Geretteten aufzurechnen. Schäuble kündigte damals Wiedervorlage an. Während einer Tagung von Staatswissenschaftlern in Jena Anfang Januar plädierte der Bonner Staatsrechtler Matthias Herdegen, unter dem Applaus einer Minderheit, dafür, den Grenzbegriff »Menschenwürde« anzutasten, weil die Zeiten es nun einmal geböten, sie gegen andere Güter abzuwägen.
Wenn der Rechtsstaat selbst auf dem Spiel steht, gibt es keine »Grenzen«, lautet die Kurzfassung der Antwort Depenheuers auf die Frage, die Schäuble nicht stellt. Damit landet er aber prompt bei Carl Schmitt, dem autoritären Juristen, der die Weimarer Republik mit hinüberargumentierte ins »Dritte Reich«. Alle Zutaten Schmittschen Denkens kommen hier zusammen: Das Flugzeug, das in terroristischer Absicht anfliegt, stellt »die Ausnahme« dar, den akuten Notstand, zugleich hat man einen »Feind« vor Augen, der mit Rechtsstaatswaffen nicht zu bekämpfen ist, es muss eine »Entscheidung« ohne langes Palaver getroffen werden, und »Bürgeropfer« sind zu verlangen, weil es um den »Staat« selbst geht. Nackte Gewalt gegen Staat pur. Das Recht befindet sich im Krieg, es wird Teil davon. So vollkommen dichotomisch ist dieses Weltbild, dass nur noch Freund oder Feind übrig bleiben: Hier der Westen, dort der islamische Terror. Kein Gedanke wird darauf verwendet, nach Ursachen für den Terrorismus oder für das Entstehen
eines militanten Islamismus auch nur zu fragen. Kein Wort über Konflikte zwischen den Religionen, über ethnische Trennlinien, über materielle Interessen im Hintergrund. Kein selbstkritischer Blick auf den »Westen «. Die Welt kommt nicht vor. Nur der archaische Konflikt gegen »den Feind«. Depenheuer klagt, die deutsche Vergangenheit tauche allenfalls als Ballast auf, der Denkverbote auferlege. »Verfassungspatriotisch gestimmte Bürger allein «, die den Staat im Konfliktfall »im Stich lassen«, hülfen nicht weiter, argumentiert Depenheuer. Man muss den Staat auf Krieg umrüsten. Die Feinde kommen nicht mehr von außen, sie kommen von innen. Der harmlose Nachbar von nebenan kann es sein. Alles potenzielle Schläfer, alles Verdächtige. Depenheuer: »Normalität ist die Bedingung jeder Rechtsgeltung; die Ausnahme als – partielle – Durchbrechung der Normalität entzieht der Rechtsgeltung ihre ›normale‹ Grundlage.« Wer sind die »Feinde«? Der heutige Feind stellt alle früheren in den Schatten, er ist das »ganz Andere«. Ihm und dem Bürger fehlt jede gemeinsame Grundlage. Der Feind »verkörpert die Negation der Lebensform einer säkularen und freiheitlichen Demokratie«. Guantánamo, so Depenheuer, sei eine »verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaatlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus«. Ob zu den ausgeloteten »Handlungsoptionen« auch präventive Sicherungsverwahrung, die Internierung potenziell gefährlicher Personenkreise oder Folter zählt? Da bleibt der Professor etwas vorsichtiger. Verfassungsrechtlich könne die Abwägung zwischen Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsansprüchen auch anders, also zugunsten von Internierungen ausfallen. Dazu müsse aber erst Karlsruhe weichgeklopft sein! Einfach geht es in dieser Denkhöhle zu, und meist gibt es alles nur im Singular. Den Feind. Die Ausnahme. Das Opfer. Den Westen. Den Terror. Die He rausfor de rung. Fast nichts hat einen Namen, nichts ein Gesicht. »Die Erwartung einer iranischen Atombombe, die Vorstellung von Massenvernichtungswaffen in der Hand von terroristischen Islamisten zusammen mit demographischen Entwicklungen machen den Ausgang in diesem ersten clash of civilisations nicht prognostizierbar.«
Gegen den »Dornröschenschlaf« der Staatsrechtslehre hält Depenheuer seine »Theorie des Bürgeropfers «. Jetzt geht es um die, die in den Flugzeugen sitzen. Angesichts der Größe der Herausforderung, so der Autor, müsse der Gedanke der Aufopferung enttabuisiert werden. »Die freiwillige Aufopferung für andere (Pater Kolbe), für den Staat (Soldaten) oder für eine Wahrheit (Märtyrer) verleiht dem subjektiven Leben zugleich eine objektive Dimension, die ihm Sinn und Erfüllung zu geben vermag.« Sich für den Staat opfern zu dürfen, das gibt dem Leben »eine die individuelle Perspektive transzendierende Dimension«. Das Opfer für die Gemeinschaft gibt der Existenz Sinn. Es darf gefeuert werden auf die anfliegenden Flugzeuge mit »dem Feind« am Steuer. Wieder stört dabei die deutsche Vergangenheit, aber auch der »neuzeitliche Individualismus«, der schon Carl Schmitt in die Quere kam. Die Peaceniks in der Verfassungsrichterrobe sind in den Augen Depenheuers Chiffre für die innere Abrüstung des »Bürgers«. Wir sind auf Seite 40. Alles drängt auf eine Entscheidung zu. Otto Depenheuer hat sie getroffen. Er entscheidet sich, und zwar zunächst einmal für Carl Schmitt! Man hat es in dieser Direktheit lange nicht mehr gehört. Ob Schmitt sich irrte, als Deutschland als Staat »der Terrorist« war, interessiert den Juristen nicht. Vom Flug Mohammed Attas gegen das World Trade Center über die Frage nach dem erlaubten Flugzeugabschuss kommt Depenheuer direkt zu Schmitts Satz: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« Wer dieser Souverän sein soll, interessiert Depenheuer nicht. Vage spricht er von der »politischen Einheit«, die entscheide. Hauptsache, das berühmte Diktum Schmitts, in dem seine Gegnerschaft zum liberalen Rechtsstaat zusammenschnurrte, lässt sich endlich anwenden. Zurückversetzt sieht man sich bei solcher Lektüre in jene Zeiten, als die Bundesrepublik sich noch nicht entschlackt hatte von den Spuren der autoritären Vergangenheit, von der Verachtung des parlamentarischen »Palavers« und der deliberativen Demokratie. Damals verabschiedete sie sich auch von einem überhöhten Staatsbegriff und lernte zu schätzen, dass die Hüter der Verfassung nicht an der Spitze der Exekutive, sondern gottlob in Karlsruhe sitzen. Was Otto Depenheuer denkt, weiß man. Ginge es nur um den »erlaubten Flugzeugabschuss«, wie das Parlament ihn mehrheitlich wollte, darüber könnte man streiten – aber er wird nur genutzt zur Überhöhung ins Grundsätzliche, zur Proklamation eines westlichen heiligen Krieges. Motto: Wer den Rechtsstaat bewahren will, muss jenseits davon operieren. Man könnte es einen Sieg des Terrorismus nennen. Dass alles Fassade ist, diese rechtsstaatlichen Standards, das soll ja bewiesen werden. Dies ist die wahre Kapitulation, sie ist der rechte Skandal. Aber warum empfiehlt Wofgang Schäuble, den man als leidenschaftlichen »repräsentativen Parlamentarier « und diskursiven Verteidiger der Prozess- Politik kennt, ein solches rechtsphilosophisch drapiertes Brevier für den Endkampf zu lesen?
Gunter Hofmann
Die Zeit, Hamburg, 09. August 2007
Original: Nicht bekannt