Der Staat observiert, Google fotografiert. Aber auch Privatleute haben Spaß an Überwachungstechnik.
Die Drohne landete im Elektrofachhandel: In Mediamärkten, bei Saturn und Amazon kann man seit Spätsommer vergangenen Jahres ein Fluggerät kaufen, dessen vier miteinander verbundene Ringe an einen zu groß geratenen Dosenbierhalter erinnern. Doch die Parrot AR.Drone ist eher ein Späher: Zwei Kameras senden Bilder live auf das iPhone, mit dem man die Drohne auch steuert. Nach vier Jahren Forschung und 20 Patenten könne man nun jedermann eine Technologie anbieten, so raunt der Hersteller, die »normalerweise für professionelle und militärische Anwendungen genutzt« werde. Und das zu einem halbwegs zivilen Preis: 299 Euro kostet das fliegende Auge.
Drohne. Wahrscheinlich war dieses unheimliche Wort für den letzten Überwachungsaufreger des vergangenen Jahres verantwortlich. Was man bislang nur aus Afghanistan kannte, klang nun bedrohlich nahe: Luftaufklärung im Schrebergarten? Nachbarn als Taliban der Vorstadtsiedlung? Gegen Weihnachten beurteilte Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner die Causa Spielzeugdrohne als »zumindest problematisch«, die Fraktion der Linken warnte vor »Schnüffeleien«, und der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar ließ ausrichten, dass er juristisch kaum etwas tun könne. Danach war schnell wieder Ruhe. Dabei hatten Schaar und Co. durchaus interessante Fragen aufgeworfen: Warum stehen hierzulande, wo viel über Datenschutz diskutiert wird, bloß der Staat und einige Großkonzerne im Vordergrund? Und was treiben eigentlich Millionen von Privatleuten mit ihren Videokameras, Drohnen, Fernrohren und Nachtsichtgeräten? Es ist die große Unbekannte in der Datendiskussion.
Stellt der Staat Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen auf, regt sich umgehend Protest. Als Google sämtliche deutschen Straßenzüge für eine digitale Karte namens Street View abfotografierte, nutzten weit mehr als 200.000 Bürger das Recht auf informationelle Selbstverteidigung und ließen ihr Haus unkenntlich machen. Privatleute hingegen, die neben ihrem Vorgarten gleich ganze Straßenzüge abfilmen, werden von der Allgemeinheit oft nur mit Achselzucken bedacht. Dabei weiß letztlich auch niemand, ob sich diese Bilder einfach versenden, ob sie auf privaten Festplattenrekordern archiviert werden oder live im Internet landen.
Wer sich der privaten Neugier und ihren ökonomischen und sozialen Auswirkungen zuwendet, findet aber kaum belastbare Daten. Während die Durchdringung deutscher Haushalte mit Spielekonsolen, Computern und Flachbildfernsehern penibel dokumentiert wird, bleibt die Sicherheitstechnik weitgehend im Dunkeln. »Es gibt so gut wie keine Erhebungen über Überwachungstechnik im Privatbesitz«, sagt Florian Glatzner von Foebud, einer Bürgerrechtsorganisation, die Big Brother und seinen Geschwistern aufmerksam auf die Finger schaut. »Die Zahl der privaten und privatwirtschaftlichen Kameras wird nirgendwo erfasst. Ihre Zahl dürfte aber die der staatlichen Überwachungskameras um ein Vielfaches übersteigen«, schätzt der Berliner Kulturwissenschaftler Dietmar Kammerer, der über Videoüberwachung promoviert hat.
Und was ist mit der Aufregung um die Parrot AR.Drone? Nachdem das Weihnachtsgeschäft gelaufen ist, wäre es ja gut zu wissen, ob sich die vermeintliche Spanner-Drohne den Befürchtungen entsprechend verkauft hat. Technikspielzeug allgemein, so viel steht fest, stand auch zum Fest 2010 ganz oben auf den Wunschzetteln. Der französische Konzern Parrot allerdings hält die Zahlen geheim. Die Fragen zur Drohne werden zwei Wochen lang bearbeitet, bevor eine Sprecherin mitteilt, dass »alles noch vertraulich« sei und man nichts sagen könne.
Am Himmel sind die Drohnen bislang jedenfalls selten zu sehen. Womöglich liegt das auch daran, dass die WLAN-Funkverbindung, mit der die Drohne gesteuert wird, nach etwa 50 Metern abreißt. Außerdem hält eine Batterieladung gerade mal zwölf Minuten, was den Einsatz als Luftaufklärer für jedermann erheblich einschränkt. Zum Spannen beim Nachbarn wäre eine Leiter allemal besser geeignet.
Gleichwohl rüstet Deutschland videotechnisch zweifellos auf. Kein Handy ohne Linse, kein Laptop ohne Kamera. Was einerseits bequem und praktisch ist, ermöglicht andererseits tiefe Einblicke: Erst im Dezember wurde im nordrhein-westfälischen Düren ein 44-jähriger Webcam-Spanner zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. In rund 100 Fällen hatte er die Rechner von Kindern und Jugendlichen gehackt und heimlich die eingebauten Kameras aktiviert.
Noch vor nicht allzu langer Zeit wäre so eine Spitzelattacke nicht einmal einem technikverliebten James-Bond-Drehbuchautor eingefallen. Heute versorgen Discounter die ganze Republik mit Überwachungstechnik. Tchibo und Aldi, die zuverlässig jedes Massenbedürfnis identifizieren und befriedigen, beweisen das stets aufs Neue. Beide Firmen hatten schon Nachtsichtgeräte im Angebot – im Fall von Aldi etwa das Tevion NV-3 auf Infrarotbasis für knapp 100 Euro. Wie viel davon verkauft wurden, verrät weder Aldi noch sein Lieferant, eine Firma aus Kaiserslautern. Aber vermutlich liegen angesichts der Aldi-üblichen Stückzahlen längst Tausende Nachtsichtgeräte auf hiesigen Fensterbänken. Man könne damit »wie eine Katze in der Dunkelheit sehen, ohne selbst gesehen zu werden«, heißt es in einem Onlinewerbefilmchen des Herstellers. Die Frage ist nur: Was genau sieht man? In dem Video steht ein Jüngling nachts bei Regen im Wald und beobachtet Hirsche. Doch wer glaubt ernsthaft, dass Tausende Deutsche überraschend eine Leidenschaft für die nächtliche Damwild-Observierung entwickelt haben?
Ein Teil der Besitzer geht wohl tatsächlich in den Wald. Ein größerer Teil glotzt nachts in Nachbars Schlafzimmer. Und der größte Teil lässt die Dinger in der Schublade vergammeln, neben alten Handys, tragbaren CD-Spielern und dem übrigen Elektroschrott, der sich dort angesammelt hat.
Oder ist vielleicht alles ganz anders? Ist Deutschland doch eine spannende Republik?
Spaß, Spiel, Sicherheit – mit diesen Worten rechtfertigen Staat und Privatleute üblicherweise ihre technische Aufrüstung. Diffuse Ängste sind dabei hilfreich: Kennt nicht jeder jemanden, in dessen Nachbarschaft schon mal eingebrochen wurde? In der Rubrik Sicherheitstechnik beim Onlineshop des Elektronikhändlers Conrad gehören gleich mehrere Videoüberwachungssysteme zu den Topsellern. Dabei bergen die Dinger jede Menge Konfliktpotenzial. So musste der Bundesgerichtshof vor einem Jahr den Streit zwischen den Besitzern zweier Doppelhaushälften im Brandenburgischen schlichten. Der eine hatte sieben Videokameras auf seinen Teil des Grundstücks gerichtet, wodurch sich der andere als potenzielles Spitzelopfer wähnte. Zu Unrecht, entschieden die Richter den jahrelangen Streit. Solange sich der Blickwinkel der Kameras nicht elektronisch, sondern nur von Hand ändern lasse, müsse er das hinnehmen.
Mehr Sicherheit bei weniger Ärger hätte der besorgte Nachbar allerdings durch einen Anruf bei der Polizei bekommen können. Die kennt sich aus mit Einbrüchen, will einem nichts aufschwatzen und verzweifelt gelegentlich an der allgemeinen Hightech-gäubigkeit. »Was nutzt es einem Wohnungs- oder Gebäudeeigentümer nach einem Einbruch, wenn er den – eventuell auch noch vermummten – Einbrecher videografiert hat?«, fragt Andreas Mayer von der Polizeilichen Kriminalpräventionsstelle in Stuttgart. »Eine Videoüberwachung ist lediglich als Ergänzung zu mechanischen Sicherungseinrichtungen denkbar.« Soll heißen: Ein stabiles Türschloss bringt mehr, kostet weniger und ist viel robuster als Hightech.
Aber der Deutsche hat eben gerne was mit Bildschirm. Zum Gucken. Und Archivieren.
Nicht die Technik macht die Überwachung, sondern die Motivation der Menschen, die sie nutzt. Sie markiert die Grenze zwischen harmlosem Hobby, berechtigtem Sicherheitsinteresse und gefährlichem Kontrollwahn. Und nicht immer ist die Abgrenzung so eindeutig wie bei jenem Shoppingsender, der vor einigen Jahren vorübergehend eine Kamera anbot, die in einem Plüschteddy versteckt war. Gedacht war das Gerät für Eltern, die heimlich ihren Babysitter dabei überwachen wollten, wie der ihr Kind überwacht. Und auch eine diffuse Angst spielte dem Anbieter in die Hände: Gab es nicht diese Geschichte aus den USA, wo ein gewalttätiger Babysitter mit heimlichen Videoaufnahmen überführt wurde?
Privatleute machen sich so die Argumentationsmuster des Überwachungsstaats zu eigen. Irgendwo gibt es schließlich immer Kriminalität.
Deutlich harmloser als der Kontrollteddy ist die Spielzeugpuppe Barbie in der Variante »Video Girl«. Aus ihrem Brustbein blickt ein Objektiv, getarnt als Schmuckcollier. Liveübertragungen sind damit nicht möglich, die Aufnahmen lassen sich lediglich per Kabel auf einen Computer kopieren. »Einmal die Welt mit Barbies Augen sehen!«, preist der Hersteller Mattel seine Hightechpuppe an. »Durch solches Spielzeug wird man schon von Kindesbeinen daran gewöhnt, ständig von Kameras begleitet zu werden«, sagt Bürgerrechtler Glatzner.
Aber ist das nun gut oder schlecht? An dieser Frage mühen sich die Menschen schon lange ab. »Die Diskussion über Sehen und Gesehenwerden ist kein Phänomen der Google-Street-View-Ära«, sagt Kulturwissenschaftler Kammerer, »Praktiken der Überwachung, auch mit technischen Mitteln, lassen sich mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen.« Bis dahin mussten die Bürger von London und Paris noch ein Licht bei sich tragen, wenn sie nachts auf die Straße gingen.
Erst Sonnenkönig Ludwig XIV. machte der Pflicht zur Selbstbeleuchtung ein Ende. Stattdessen setzte er in Paris erstmals eine staatliche Straßenbeleuchtung durch, damit die Obrigkeit ihre Untertanen noch besser sehen konnte. Die Idee machte Schule, doch Mitte des 19. Jahrhunderts begann der Widerstand. Das Bürgertum rebellierte gegen die behördlich verordnete Lichtflut, weil die Städte zwar heller, aber nicht sicherer geworden waren. Seitdem herrscht Skepsis gegenüber jeder neuen Technik, die prinzipiell zur Überwachung der Menschen geeignet ist: Bei der Fotografie war das so. Bei Computern. Bei Smartphones mit GPS-Empfängern, Nachtsichtgeräten und Kameradrohnen.
Der Unterschied zu früher ist, dass nicht mehr nur der Staat zuschaut, sondern theoretisch jedermann: Nachbarn, Freunde oder Unbekannte. Beispiele wie das des Webcam-Spanners zeigen, wie schnell alltäglich gewordene Gegenstände umfunktioniert werden können. Das mögen Einzelfälle sein, die Schäden gering im Verhältnis zum Nutzen der Technik. Gleichwohl ändert sich etwas im Umgang miteinander. »Man macht sich darüber keine Gedanken, aber man sollte es tun«, sagt Kammerer.
Vielleicht passiert das ja gerade. Hier und da trifft man Menschen, die kleine Aufkleber auf ihren Laptops haben: oben in der Mitte, wo die eingebauten Kameras sitzen. Es sind Augenklappen für die vielen kleinen Brüder – mechanisch, billig, effektiv. Man weiß ja nie, wer zuschauen will.
Marcus Rohwetter
Die Zeit, Hamburg, 29. Januar 2011
Original: http://www.zeit.de/2011/05/Deutschland-Ueberwachung