Grüne neben Linken, Antikapitalisten neben Jungliberalen: Über fast alle politischen Gräben hinweg demonstrieren in Berlin Tausende für digitale Bürgerrechte.
Derart bunt gemischt ist dieser Protestzug, dass man sich manchmal fragt, auf welcher Demonstration man da eigentlich gelandet ist. So wie die beiden 15-jährigen Mädchen, die eigentlich auf einer anderen Demo waren und dann zufällig dazu gestoßen sind. "Aber natürlich interessiert uns der Datenschutz auch!", sagen sie. "Weil es kein Briefgeheimnis mehr gibt, beim Chatten und bei Emails", erklärt die eine. "Ich find's halt nicht schön, wenn ich überwacht werde," die andere. Die Politik kümmere sich überhaupt nicht um die Themen, die junge Leute interessiere. Anzeige
Diese Sprachlosigkeit zwischen den Generationen, zwischen Politik und Netzbürgern ist es, die an diesem sonnigen Samstag Tausende auf Berlins Straßen treibt. Sie protestieren gegen die Datensammelwut von Behörden und Unternehmen, gegen Online-Durchsuchungen, gegen Zensur. Von 25.000 Teilnehmern sprechen die Veranstalter, die Polizei zählt 10.000.
"A, A, Antikapitalista!" ruft es aus dem Block mit den schwarzen Kapuzenpullis, der friedlich hinter den Grünen mit den Schäuble-Luftballons her trottet. Dazwischen Linke, Tierschützer, die Aidshilfe, die DKP, der Chaos Computer Club, Junge Liberale. Mehr Männer als Frauen, und das Durchschnittsalter mag trotz zahlreicher Ausreißer nach oben ungefähr bei dem der Piratenpartei-Mitglieder liegen: 29 Jahre. Ein großes Thema, die Forderung nach digitalen Bürgerrechten, hat Gruppierungen und Interessen unterschiedlichster Art an diesem Tag zueinander gebracht. Bloß die Parteien der Großen Koalition sucht man vergeblich.
"Freiheit statt Angst" ist der Name des Bündnisses aus immerhin 167 Organisationen, das die Demonstration initiiert hat. Ein Mitorganisator und Datenschützer, der nur unter seinem Künstlernamen Padeluun bekannt ist, sprach von einem "vollen Erfolg, der Mut macht für die kommenden Auseinandersetzungen".
Viele der vor allem jungen Teilnehmer berichten von ihrer Sorge, dass ihre Surfbewegungen im Netz nachvollzogen werden könnten. Dass sie Angst haben, ihnen könnte wieder genommen werden, was das Internet ihnen gerade erst geschenkt hat: eine Vielfalt an neuen Kommunikations- und Ausdrucksmöglichkeiten. Aber auch das Gefühl, doch etwas bewegen zu können, etwa mit Online-Petitionen gegen Zensur, oder indem man sich in sozialen Netzwerken organisiert.
Diese Jugendlichen machten jeden Tag die ganz konkrete Erfahrung, dass Freiheit ein Gut ist, um das es sich zu kämpfen lohne, sagt die langjährige Aktivistin Rena Tangens. "Das hat für eine Politisierung unter jungen Menschen gesorgt, wie sie es lange nicht gegeben hat", erklärt sie. Sie gehört zu den Demonstranten, die schon 2006 für "Freiheit statt Angst" auf die Straße gingen. Damals kamen gerade einmal 250 Teilnehmer.
Heute, zwei Wochen vor der Bundestagswahl, nutzt die Piratenpartei den Termin, um kurz vor der Demo zur Pressekonferenz zu laden. Ein Dutzend Journalisten lässt sich dort vom Bundesvorsitzenden Jens Seipenbusch erklären, warum das Thema Bürgerrechte sogar so wichtig ist, dass man sich zu anderen Themen im Parteiprogramm bis auf weiteres der Meinung enthalten will. Atomausstieg? Sozialpolitik? Fehlanzeige. Nicole Hornung, die einzige Frau im Bundesvorstand der Piraten, sagt: "Politisches Engagement - egal für welches Thema - ist nichts wert, wenn die fundamentalen Grundrechte nicht eingehalten werden." Innerhalb der Partei seien die Meinungen so kontrovers, dass der Konsens in der gemeinsamen Sache nur zu haben sei, wenn man in anderen Punkten zu Zugeständnissen bereit sei. Nur so sei eine grundsätzliche Wende in der Politik zu schaffen.
"Eine Politik, die uns, die Bürger dieses Landes, in erster Linie als potenzielle Terroristen, Kinderschänder oder Amokläufer sieht, zerstört die Grundlagen unserer Demokratie", stellt Franziska Heine auf der Abschlußkundgebung am Potsdamer Platz fest. Heine hat die Onlinepetition gegen Netzsperren an den Bundestag innitiiert. Die jungen Leute jubeln ihr ebenso begeistert zu, wie sie zuvor Verdi-Chef Frank Bsirske applaudiert hatten, als er einen besseren Datenschutz für Arbeitnehmer forderte. Auch Thilo Weichert, der Datenschutzbeauftragte in Schleswig-Holstein wird beklatscht. Die Redner kritisieren den biometrischen Reisepass, die Gesundheitskarte, Überwachungskameras und die Verschärfung der Gesetze in der Folge des 11. Septembers. Friedlich stehen Antifaschisten neben JuLis, die Grünen neben der Linken.
Kurzzeitig unfriedlich geht es erst gegen Ende der Veranstaltung zu, als es aus nicht ersichtlichen Gründen zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und dem schwarzen Block kommt. Der Veranstalter der Demonstration spricht hinterher von einem übertriebenen und unbegründeten Einsatz von Pfefferspray und Schlagstöcken. Auch im Hinblick auf die Durchführung künftiger Demonstrationen sei nicht zu akzeptieren, dass Grundrechte - im wahrsten Sinne des Wortes - mit Füßen getreten werden, wird ein Sprecher von der Initiative Antikapitalistischer Block am Abend zitiert.
Update: Inzwischen gibt es ein Video, das einen scheinbar grundlosen Angriff eines Polizisten auf einen Demo-Teilnehmer dokumentiert. Der Chaos Computer Club sucht Zeugen
Tina Klopp
Zeit Online, 14. September 2009
Original: http://www.zeit.de/digital/2009-09/Freiheit-statt-Angst-Demo