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ETHNISCHE CYBERUNGEN

Die Wirklichkeit verschwindet hinter Informationen. Warum das Internet in Zeiten des Kosovo-Kriegs mehr schadet als nützt.

Von Peter Glaser

Als das Internet in den sechziger Jahren entwickelt wurde, hatte es eine sehr zeitgemäße Eigenschaft: Es war unverwundbar gegen überraschende Nuklearschläge. Es gab im Internet keine neuralgischen Punkte mehr. Keine zentralen Vermittlungsstellen, durch deren Zerstörung das System unterbrochen werden konnte. Jeder Rechner im Netz ist eine Vermittlungsstelle. Mit deren Hilfe suchen die Daten sich selbst ihren Weg durch die Leitungen; demolierte oder überlastete Strecken werden automatisch umfahren.

Diese dezentrale Eigenschaft des Internet basierte auf der fixen Annahme, daß der Feind von oben kommt. Nun ist Krieg in Jugoslawien und die Welt steht Kopf. Jetzt kommt die Unterstützung aus der Luft - die Nato bombt -, und der gefährlichste Gegner sind die eigenen Leute am Boden. So jedenfalls stellt sich die Lage für Oppositionelle dar, etwa die Betreiber des unabhängigen Belgrader Radiosenders B92. Sie verbreiteten ihr Programm auch per Real Audio-Stream über das Internet. Bürgerrechtler aus Holland, Deutschland und Österreich fokussierten nach Kriegsausbruch ihre digitalen Scheinwerferspots so sehr auf die B92-Homepage, daß es für die Betreiber brenzlig wurde. Die internationale Aufmerksamkeit führte in der aufgeheizten Stimmung nach den ersten Nato-Bombenabwürfen dazu, daß sie um ihr Leben fürchten mußten. Am 2. April wurden Sender und Website von Sicherheitskräften abgeschaltet. Keine Umfahrung.
Bereits im Oktober letzten Jahres hatte eine Gruppe serbischer Hacker allem Antiserbischen im Netz den Cyberkrieg erklärt. In einem Bekenneranruf übernahm ein junger Mann, der sich als Mitglied eines Hackerteams namens »Schwarze Hand« zu erkennen gab, die Verantwortung für den Crash einer Kosovo-Albanischen Website. »Wir werden damit fortfahren, (ethnisch) albanische Lügen aus dem Netz zu entfernen«, stellte der Mann klar. Er kündigte an, die Gruppe wolle als nächstes die Nato-Site hacken. Prominentestes Mitglied der altvorderen Untergrundorganisation »Schwarze Hand« war der radikale Serbe Gavrilo Princip: 1914 ermordete er in Sarajewo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand nebst Gattin und löste damit den ersten Weltkrieg aus.
Am 31. März, eine Woche nach Beginn der Nato-Luftangriffe, wurde von einem Computer in Belgrad aus die Website der Nato dermaßen mit E-Mails zugemüllt, daß tagelang kaum noch durchzukommen war. Auch eine andere Art von Territorialkampf hat die Nato bereits zur Hälfte verloren. Die Internetadresse www.nato.org führt seit 1996 auf die Homepage von Gary Cohn, Betreiber der Agentur »Word of Mouth Advertising Inc.« in Northbrook, Illinois (»My favourite Links: Abortion, Sex & Smoking, Operation Allied Force«). Die Endung .org soll eigentlich intuitiv sein und Organisationen kennzeichnen. Das amerikanische NIC (Network Information Center), zuständig für die Vergabe von Internet-Adressen, teilt .org-Adressen allerdings an jeden aus, der sich an das Vergabereglement hält. Unter deutschen Hackern gehört es zu den Statusobjekten, eine eigene .org-Domain mit zugehöriger E-Mail-Adresse a la ich@karlchen.org zu haben. Nun firmiert die Nato eben unter www.nato.int (wie international). Und für´s Militär ist es ja wohl immer günstiger, wenn man es nicht sofort entdeckt.
Auch das deutsche NIC in Karlsruhe, Inhaber der neckischen Adresse www.scha.de, hat eine Weile jede gewünschte freie Netzadresse vergeben. So konnte die Hannoveraner Milieugröße Peter Angermann eine Art Hodenkrieg gegen die Allianz starten. Neben aparten Adressen wie www.ficken.de gelang es ihm, sich auch die Domain Namen www.kripo.de und www.nato.de unter den Nagel zu reißen. Erst nachdem die Gerichte in den letzten Jahren gegen das sogenannte »Domain Grabbing« einschritten - das Horten vielversprechender Netzadressen, um sie an die Zuspätkommenden zu verkaufen -, wurden ihm kripo und nato wieder entwunden.
Zu den wenigen echten Vorteilen, die das Netz in der Krise bereithält, zählen Websites wie www.kosova.de/ albpress, unter denen Listen mit Namen Vertriebener geführt werden, die bei der Suche nach verlorengegangenen Familienmitgliedern oder Freunden helfen sollen. Im übrigen ist die Internet-Technik nicht die einzige Möglichkeit, Computer miteinander zu vernetzen, und auch nicht die robusteste.
Während Anfang der Neunziger der Krieg in Slowenien und Kroatien einsetzte, wurden die Telefonverbindungen zwischen den Landesteilen blockiert. Um sich weiterhin mit der anderen Seite austauschen zu können und ein Gegengewicht zur lokalen Propaganda zu haben, entstand ein Netz aus Computermailboxen, das »Zamir«-Netz. »Zamir« heißt sowohl auf serbisch als auch auf kroatisch und slowenisch »für den Frieden«. Die Datenturbine, in der die Nachrichten umgeschaufelt wurden, steht in Bielefeld: die legendäre Bionic-Mailbox. »Im westslawonischen Pakratc haben die Leute die Mailboxrechner mit in die Flüchtlingslager genommen«, erzählt Bionic-Betreiberin Rena Tangens. »Die Technik ist einfacher und solider als Internet. Keine Standleitungen. Kurze Übertragungszeiten. Man konnte jede verfügbare Telefonleitung verwenden. Im Internet wird eine gedankenlose Ressourcenverschwendung betrieben, die viele von dieser Kommunikation ausschließt.«
Von der Handvoll Zamir-Mailboxen hat es nur das System in Zagreb in die Eigenständigkeit geschafft, die anderen sind erloschen. Der Rechner in Pristina wurde im Oktober 1997 vom Netz genommen, als sich viele Tausend Mark an Telefonrechnungen summiert hatten und die Bielefelder das nicht mehr aus der eigenen Tasche bezahlen konnten. Gerade deshalb, sagt Tangens, »soll man die Menschen dort nicht zu Spendenopfern degradieren, sondern ihnen zu Selbständigkeit verhelfen.« Das Internet kommt dem etwas traumverlorenen Gefühl von Verzweiflung entgegen, das wir Fernsehzuschauer verspüren, wenn uns das Leid der Welt aufgeladen wird, in Berichten und Bildern, kurz und dramatisch wie Werbespots. Reklame für die Realität. Wir spüren dieses Nicht-Gefühl, als wäre uns die Seele eingeschlafen wie ein Fuß: ein Drama zu sehen, aber - aus vielen Gründen - auf den Appell nicht reagieren zu können.
Das Internet verheißt nun endlich die Möglichkeit, (inter)aktiv werden zu können. Sich mit der Maus dem Glutkern des Geschehens anzunähern. Nachsehen zu können, ob auf den Datenpfaden vielleicht ein Stück der verlorenen Wirklichkeit wiederzufinden ist. Manche sehen eher eine Art Datenpornografie aufkommen - Krieg live, geschützt wie in einem Haifischkäfig unter Wasser. Aber während sich im Netz immer mehr Informationen aller Art auftürmen, berichtet niemand mehr direkt aus dem Kosovo, vom eigentlichen Ort des Geschehens. Die Wirklichkeit verschwindet hinter Informationen.
Wenn sogar Militärs, die Geheimniskrämer per se, auf Briefings und Websites mit Informationen nur so um sich werfen, ist Skepsis angesagt. Zuzeiten des Kalten Kriegs scherzte ein US-Senator mal, wenn man eine BMX Rakete so verstecken wolle, daß nicht einmal die Russen sie wiederfinden, brauche man sie nur auf die Mittagsmaschine von Chicago nach New York einzuchecken. Wenn man heutzutage eine wirklich wichtige Information verstecken will, veröffentlicht man sie am besten im Internet.
Die besten Reporter der Welt stehen in diesem Krieg vor allem vor Zäunen, ob an der serbischen Grenze oder vor dem Militärflughafen von Aviano. Wenn der Moderator im Studio sich mitfühlend bei dem Reporter erkundigt, woher er denn unter diesen schwierigen Bedingungen seine Informationen beziehe und der sagt: »..und wir sehen hier viel ausländisches Fernsehen«, rückt der ganze Aberwitz der Situation schlagartig ins Licht.
Und so beschert uns das Internet eine neue Qualität: die Möglichkeit, uns so unausgewogen, so unsachlich und ungefiltert zu informieren wie wir es in den klassischen Informationsmedien niemals können. Eine extreme Herausforderung an unser Urteilsvermögen. Um das Potential und die Zumutungen des Internet bewältigen zu können, muß journalistische Sorgfalt notwendigerweise zu einem Teil der Allgemeinbildung werden. Es geht aber alles zu schnell. Auf solche Entwicklungsbeschleunigungen ist unser Werte- und Bildungssystem nicht vorbereitet. »Krieg«, schrieb Marshall McLuhan, von dem das Wort vom »Globalen Dorf« stammt, »ist jeder Prozeß der Neuerung oder Veränderung, der mit großem Tempo vor sich geht. Jede Form fortdauernder und beschleunigter Neuerung stellt im Effekt eine Kriegserklärung gegenüber der eigenen Zivilbevölkerung dar.«

Die Woche, 16. April 1999

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